Titelthema
Gedanken von Dr. Godehard Schramm zum Kirchenjahr und unserer Begräbniskultur
Der Johannisfriedhof: Andenken an Geburt – Tod – Verklärung

Wappen-Epitaph, das zwei
dicke Bücher trägt – das eine
zeigt den Titel „Das Nürnberger
Künstlerlexikon“, das andere
den Namen seines schon
verstorbenen Autors: Manfred Grieb.

Grabstein vom Nürnberger Generalmusikdirektor Hans Gierster.

Den Terminkalender für’s neue Jahr vor Augen, da sehe ich weiße, grüne, violette und rote Streifen, dazwischen einen Schwarzen: Erst von den Festen des Kirchenjahrs grundiert, bekommt das Kalenderjahr die einladende Struktur für’s Wiederkehrende. Für mich hat das Kirchenjahr auch die Gestalt einer Wendeltreppe, die ins Unendliche führt: nach Oben offen.

Der Nürnberger Bildhauer Adam Kraft, Schöpfer des Sakramentshauses in St. Lorenz und des Landauer’schen Epitaphs an St. Sebald, hat von der Burgschmietstraße aus eine Passions-Passage mit seinen Bildsäulen als weithin sichtbaren Akzent gesetzt: Das letzte Original stand noch bis 1945. Auch wenn heute nur Repliken diesen Weg säumen: Die Kreuzwegstationen führen als Glaubens-Bekenntnis bis zum St. Johannisfriedhof.

An einem Abend zur Zeit des Christkindlesmarktes wollte ich mit den Münchner Enkeln noch mit der Postkutsche fahren, doch die Pferde hatten ihren schweißtreibenden Dienst schon getan. Da ich wusste, daß sie nun im Schritt stall-heimwärts ziehen, bis Wetzendorf, fragte ich bittend den Kutscher, ob wir nicht bis zum St. Johannisfriedhof mitfahren dürften… Was für eine Freude für die Kinder, diese Strecke zum ersten Mal so zu erleben, und während dieser geruhsamen Sonderfahrt fiel mir das Bedauern von Pfarrer Martin Brons ein: „Es gibt in der ganzen Innenstadt keinen Leichenzug mehr!“ Sogleich entsann ich mich einer Begegnung in der Karpatho-Ukraine: Unser Bus musste am Straßenrand anhalten, denn es kam uns ein Beerdi-gungszug aus einem Dorf entgegen. Priester und Diakon schritten voraus und sechs Männer trugen im offenen Sarg eine jung Verstorbene zum Friedhof. Dieses so selbst-verständliche Geleit erfreute mich auch deshalb, weil nach dem Sterben die Verstorbene als sichtbare Tote von einer Gemeinschaft persönlich zu jener einsamen Zollstation im höchsten Gebirge überführt wird, von der Ernst Jünger schrieb, daß „der Sterbende einen Punkt erreicht, an dem er / … / die Landschaft des Lebens und des Todes überblickt – (wo) er Furcht gegen Sicherheit vertauscht.“

Als wir am St. Johannisfriedhof ausstiegen, war’s stock-finster. Doch beim nächsten Mal werde ich den Kindern ein lächelndes Kind zeigen: Auf der dem Friedhof zugewandten Seite des evangelischen Pfarrhauses hat ein Pfarrer in eine freie Nische, zwischen zwei Fenstern, eine Gottesmutter aufstellen lassen, und diese Maria kitzelt ihr Jesuskind an den Fußsohlen, so daß es lächelt. Auch diese Geste gehört in diese „Landschaft des Lebens und des Todes“.

Etliche Monate zuvor war ich mit denselben Enkeln, mit U3, Tram 4 & 6, bis zum Sankt Johannisfriedhof gefahren; bevor wir mit einem VAG-Bus zurückkehrten, wollte ich ihnen, da sie schon kindlich unbefangen von der verstorbe-nen Ur-Oma wussten, zwei Bilder vom Auch-das-gehört-dazu zeigen: Einen gar nicht fauchenden Totenkopf und eine nicht mehr klingende Gitarre. Mir selber ist, nach unzähligen Gängen über Nürnbergs für mich schönsten Rosengarten, auch diesmal etwas überraschend Neues auf-gefallen: Wer neben dem Steinschreiberhaus dieses Labyrinth mit seinen himmelwärts schauenden Epitaphien-Bildern betritt, kann eine Zeile von Bertolt Brecht lesen; sie ist auf einer Steinplatte im gepflasterten Weg eingraviert: „Von diesen Stätten wird bleiben / der durch sie hindurchschritt/ Der Wind.“ Dieses Dichters Behauptung wird manchen Besucher vielleicht empören: „Wós? Bloß der Wind sollert bleibn? Net äh mol die Erinnerung? Náa! Des glaab’i net!“

Wer diese steingewordene Totenwelt nicht nur schätzt, sondern sie als beispielhafte gegenständliche Kunst liebt, der wird sich an ihrer unerschöpflichen Vielfalt immer wieder erfreuen. Sie kann als Mixtur, gleich einem Orgelregister, erlebt werden – mit jähen Sprüngen von Todtraurig und Glaubend-Besonnen bis zu Eulenspiegel-Witzig. Ein Lied von Wolf Biermann noch im Ohr – „Soldaten sind sich alle gleich / lebendig und als Leich“ –,,da staune ich über dieses typisch nürnbergerische Sich-Hinwegsetzen über sozialistische Gleichschaltung: Denn wenn seit dem 13. und 14. Jahrhundert eine flach liegende Grabgröße von einer Nürnberger Fuß-Länge Vorschrift ist – das Aufdem-Grabstein gewährt doch individuelle Ausdrucksfreiheit. Hier nahm die Epitaphien-Kunst der Nürnberger Rotgie.er ihren Anfang – und sie währt bis heute ungebrochen fort.

Während des ganzen Kirchenjahrs erfährt dieser Friedhof besondere Zuwendung; die recht dauerhaften Rosenstöcke blühen polychrom, bei nahendem Frost bekommen viele ihre Wintermäntel – sei’s Tannengrün, sei’s eine Plastikplane. Um Allerheiligen und Allerseelen kann es einem geschehen, daß eine Rumänin, ihrer Verstorbenen gedenkend, zum Imbiss am Grab eingelädt, und sogleich beginnt Einander-Erzählen. Ein polnischer Besuch hat die von daheim vertraute Wódka-Flasche dabei. Seltsam schön ist verschiedenes Nahbeieinander: Wir Christgläubigen sagen Weih-Nachten, auch am Heiligen Abend – für Polen ist das Gottes-Geburt, Vigilia Bożego Narodzenia; und unser Ostern, in alten Kalendern noch als Hochfest der Auferstehung Christi eingetragen, ist für Polen die Große Nacht, Wielka Noc.

Wessen inneres Kirchenjahr mit der violetten Adventsrampe beginnt, vom rotkerzigen Adventskranz begleitet, für den reißt nach Weihnachten und Epiphanias die Weihnachtszeit ja nicht abrupt ab: Auf das Faschings-, das Karneval-Intermezzo („Carne vale! Fleisch, leb wohl!“), folgt die Wiederkehr des Gedenkens an die Passion. Eines jeden Gläubigen ganz individueller Kreuzweg bekommt erst Sinn, wenn er auf den Kreuzestod Jesu Christi bezogen bleibt: nur so kann dem Glaubenden die verheißene Erlösung zuteil werden.

Manches Epitaph auf diesem einmaligen Friedhof mutet wie zuversichtliche Verbannung der Todesfurcht an: Da fährt ein Herr Schmerbauch seine bairische Wampn auf einer Schubkarre eigenhändig ins Jenseits. Da erinnert jemand an seinen Lieblings-Lastwagen, einen MAN; eines anderen Grab schmückt der runde BMW 502. Zwischendurch allerlei Engel, sogar eine Stein-Maus und eine 1943er Fliegerbombe. Das lotrecht monumentale Gebilde inmitten der flachliegenden Steine, das Müntzer’sche Grabdenkmal, ist ein Oster-Hymnus: Geblendet vom verklärenden Licht stürzen die Grabwächter zur Seite. Und mit einem Mal erklingt, sichtbar unhörbar, Gro.er Gott wir loben dich, mit einer Notenzeile überm zierlichen Orgelprospekt: an den bedeutenden Organisten Rudolf Zartner erinnernd. Auf dem Grabstein vom Nürnberger Generalmusikdirektor Hans Gierster liegt auf den metallenen Notenblättern der niedergelegte Dirigentenstab … Es ist, wenn auch nicht für alle Ewigkeit, so doch für lange Erinnerungszeit eben mehr als nur Der Wind, der bleibt. Eigenartigerweise gibt es hier auch, wie auf der Friedhofsinsel S. Michele in Venedig, Ewigkeitsgräber … Die sollen ewig unverändert bleiben. Wie es nach und nach aufhellte, da erkannte ich individuelle Konturen mancher Steine, und ich wusste nun erst, wo der wuchtig hohe Grabstein steht, der unterhalb eines

großen Wappen Epitaphs zwei dicke Bücher trägt – das eine zeigt den Titel Das Nürnberger Künstlerlexikon, das andere den Namen seines schon verstorbenen Autors: Manfred Grieb.

Und wie bezaubernd modern die Epitaph- Gestaltung für die Ärztin Kordes, südwärts von der Friedhofskirche gelegen: Ein uralter Stein bekam als Epitaph- Pult den Rand einer Blumenschale und von deren oberstem Rand fließt ein bronzenes Schriftband herab, einem Spruchfluß gleich, der sich ins Steinbettgegraben hat und uns das ansprechende Gedicht von Schalom Ben Chorin vom Mandelzweig lesen lässt: „Da. der Mandelzweig wieder blüht …“ Wer diese poetische Zuversicht mitnimmt, gewahrt vielleicht auch, daß der Zweig über dem Textbeginn wirklich einen Mandelzweig darstellt, dessen flaumige Früchte wie Text-Tautropfen herabfallen – von einem stilisierten Zweig: in Kreuzesgestalt. Dies alles hat der Schweizer Bildhauer Hanspeter Widrig gestaltet, der seit vielen Jahren in Stein lebt.

Dieses Nürnberger Totenreich ist nicht allein StadtGeschichteBuch; es ist mit seinen Schafen, Adlern, Eidechsen, Vögeln und Rössern auch ein intimer Tieregarten; gewiß auch ein schier unerschöpfliches Foto-Jagdbilderbuch, ergänzt um die Gegenwart von menschlichen Heiligen – wie dem Sankt Martin, dessen Pferd der linke Vorderfuß längst abgebrochen ist, aber der mit dem geteilten Mantel Bedachte freut sich noch immer über die zu erwartende Gabe vom Martin, der hier bereits seine Bischofsmitra trägt. All diese wundersamen Details aus über 700 Jahren Begräbnis-Kultur münden in einem großen Bild: All die bekannten und unbekannten Verstorbenen, die Betrauerten und die längst Vergessenen, bilden einen großen Chor, der mit individuellen Gestalten ein Ganzes verkörpert. Hier ist  eine Stadt als Gesamt-Symphonie zu vernehmen – unter den Dirigenten Tod, Lebensfreude und Kunstsinnigkeit. Nicht für jeden wird dieser Zusammenklang so heißen: SOLI DEO GLORIA. Aber als Hymnus an eine viel- und zugleich einstimmige Stadtgesellschaft wird sie weiter gelten – vielleicht indes auch als Abgesang an etwas  Schwindendes… Denn wer erlebte nicht mit, daß viele unserer global verstreuten Familien zu diesem Grab-Erhalt, zu diesem Grab-Opfer, gar nicht mehr in der Lage sein können.

Als der weltberühmte ungarische Komponist Béla Bartók in Amerika 1945 in New York verstarb, fand sich in seinen Schubladen nicht einmal soviel Geld, das für die Bestattung gereicht hätte. Nachdem bei uns mancher selbstverständlich gewordene Zuschuß fürs Sterben gestrichen worden ist, müssen viele Menschen überlegen, ob sie sich den Begräbnis-Luxus überhaupt noch leisten können. Zu diesem finanziellen Aspekt kommt ein anderer, noch gravierenderer hinzu; Ernst Jünger schrieb in seinen Tagebüchern Jahre der Okkupation am 28. September 1945: „Alle Kulturen […] beruhen auf dem Gräberdienst. […] Der Verlust wird jetzt wieder spürbar, wo man die Gräber entbehrt.“ Begräbniskultur ist also auch ein Zeichen von persönlichem und gemeinschaftlichem öffentlichen Bewusstsein. Nicht wenige weichen inzwischen auf „Baumfriedhöfe“ aus; Urnenbestattungen nehmen zu.
Vor einem Jahr nahm ich zum ersten Mal an einer Seebestattung teil; ein Schiff, ohne Pfarrer, fuhr unsere Trauerfamilie in die Lübecker Bucht hinaus;

an einer bestimmten Stelle wurde die Urne zu Wasser gelassen, von Blumenblättern bestreut, vom Geläut der Schiffsglocke begleitet und noch einmal vom Bott umrundet … Alles würdevoll – mir aber kam es vor wie ein Wegwerfen der Asche ins Unauffindbare: Entledigung ohne einen Ankerplatz der Erinnerung. Vielleicht bleibt nur diese Geste als Andenken an die Verstorbene? Gleichwohl, wenn man sich selber auf einem Noch-Friedhof als einen von Vielen vorstellen kann, noch dazu in eben dieser einmaligen Nürnberger Fassung, dann könnte auch der Kaum-Bekannte sich mitfreuen an den fortleuchtenden Namen – heißen sie Anselm Feuerbach oder Friedrich Hagen, wie der Dichter aus Nürnberg, Autor des Résistance-Romans Die Kelter des Zorns, der 1979 in Paris verstarb; sein schlichtes Nur-Namen-Epitaph ist auf einem Grabstein gleich hinter dem für Albrecht Dürer. Das Grab als Ort des Nachtrauerns – auch als Stelle des Trauer-Überwindens: Wenn ein  Witwe Jahre braucht, bis sie sich am Grab ihres Manne der Absolutheit des Nicht-mehr-Da stellen konnte. Friedhof also auch als Landschaft des gezeigten Verlustes. Im Sinne von Altbundeskanzler Helmut Schmidt könnte diese Art Trauer-Ertragen, Weltwie-sie-ist-Aushalten und Nicht-Verschmerzen-Können als ein Friedhofs-Vorbild ermuntern.

Begräbniskultur ist ja zu allererst etwas für die Weiterlebenden, das wie ein Komentenschweif dem verschwundenen Kometen hinterherleuchtet. Und hier in einer so vielgestaltigen Umgebung, wo weder Nur-Kreuz-neben-Nur-Kreuz steht, wie auf dem Friedhof in Segringen (nahe Dinkelsbühl), noch Nur-Stein-mit-kleinem- Gärtlein-davor, wie anderswo üblich. Das Bildstarke dieses Friedhofs vermittelt in seiner Vielfalt, daß auch das Beerdigen verbinden kann – wenn sich auch andere an der Trauer-Überwindungskraft hier mitfreuen. Auf dem St. Johannis-Friedhof ist auch Lächeln mit eingeschlossen … Da schaute doch Alfred Hahn, der langjährige Friedhofswärter, einmal aus seinem Steinschreiber-Haus und wurde stutzig: Ein Zug Trauernder zog hinter den vier Sargwagen-Schiebern her – schon zum dritten Mal auf demselben Weg, das offene Grab verfehlend. Da eilte der Verdutzte zu Hilfe; es war zur Faschingszeit – die Sargfahrer hatten eine Fahne, die weithin roch.

(Siehe Highlight, S.39: Gehen Sie den ökumenischen Kreuzweg entlang der Stationen von Adam Kraft mit, Freitag, 18. März, 17.00 Uhr beginnend in St. Sebald und endend in St. Johannis., um 17:00)
(Text: Godehard Schramm, Fotos: Madame Privé)


DER AUTOR

Dr. Godehard Schramm, am 24.12.1943 in Konstanz am Bodensee geboren, mit katholischer Mutter und evangelischem Vater, hat neben Slawistik auch Theologie und Geschichte des christlichen Ostens studiert. Als fränkischer Europäer baut er auch Brücken zwischen slawischer und romanischer Welt. Seit 1974 lebt der freischaffende Schriftsteller in der Nürnberger Schweppermannstraße. Seine Verbundenheit mit der einstigen Freien Reichsstadt spiegelt sich in seinen rund 70 Büchern: Nürnberger Bilderbuch (1970, mit Michael Mathias Prechtl), Sankt Johannis – rosenschön. Mein Nürnberger Lieblingsviertel (1999), 888 Meter Heimat. Nürnberg – von einer Straße aus erzählt (2007). Auf seinen Kindheitsroman Mein Königreich war ein Apfelbaum (2005) folgte 2013 seine Lebensreise durch ein Land: Eigensinnig. Mein Franken. Dieser Tage erschien sein Staudamm für Weihnachten; das 230 Seiten umfassende Buch enthält auch eine Hommage an den Nürnberger Christkindlesmarkt sowie den selbstkritischen Text Mein kleiner Nürnberger Rauschgoldengel.