Innenstadt
Digitale Theologie?
Digitale Theologie?

vater unser,
der du bist die mutter,
die du bist der Sohn,
der kommt,
um anzuzetteln
den himmel auf erden

Der so unorthodox betet, hat zeitlebens angeeckt und viele genervt. Auf der Suche nach einem Gewährsmann für digitale Theologie bin ich auf ihn gestoßen. Ende Januar 2021 hätte der Dichter und Schweizer Pfarrer Kurt Marti seinen 100. Geburtstag.

Digitale Theologie – bisher Spielwiese – wurde letztes Jahr in Zeiten von Corona zum Notprogramm. Dass es, um Gregor von Nyssa vor 1.600 Jahren zu zitieren, dabei nicht um „Technologia“ geht, sondern allen Ernstes um „Theologia“, zeichnet sich immer mehr ab. Wir haben in dieser Zeit auf geradezu urkirchliche Weise gespürt, was uns laut Kurt Marti längst abhanden kam: Die Körperkirche.

die kirche des geistes
sind unsere körper
darum dann:
umarmungen, küsse
und heilige mähler
erst später:
kirchen aus stein

Wir haben das Unbehagen gespürt, dass sich einiges an unserer Sprache, unserem Auftreten, an den Abläufen unseres Pfarreralltags ändern muss – ein Quantensprung geradezu, entweder alles beim Alten zu lassen und Dienst nach Vorschrift zu machen, oder uns auf die neuen Herausforderungen des Social Distancing einzulassen.

Ähnliches hatte Kurt Marti hinter sich, als er Mitte der 50er Jahre mit seiner theologischen und persönlichen Existenz nicht mehr zurechtkam. 

Er schreibt: „Durch das ständige öffentliche Reden hatte ich das Gefühl mir selber entfremdet zu werden, langsam mein Ich, meine Identität zu verlieren.“ Mit etwa 35 Jahren fing er an, neben seinem Pfarr-und Predigtdienst Gedichte zu schreiben, später auch Geschichten. Verrückte Gedichte – in Mundart, in Bärner Umgangsschprach:

 

wo chiemte mer hi
wenn alli seite
wo chiemte mer hi
und niemer giengti
für einisch z’luege
wohi dass me chiem
we me gieng

Wo kämen wir hin,
wenn alle sagten,
wo kämen wir hin,
und keiner ginge,
um zu sehen, wohin wir kämen,
wenn wir gingen.

 

Dieses Schreiben war Notprogramm zur Bewältigung seiner Midlife-Crisis. Für ihn  ein neues, anderes Paradigma als die konventionellen, eher etwas langen Predigten, die er seiner Gemeinde nach wie vor hielt. Wäre es nicht zu diesen kargen, radikalen Gedichten gekommen, was wäre uns, seinem Lese- und Lernpublikum, da entgangen! Kurt Marti ist neben Dietrich Bonhoeffer der zweithäufigste Autor der Texte in unserem Gesangbuch.

ihr fragt
was ist die auferstehung der toten?
ich weiß es nicht

ihr fragt
wann ist die auferstehung der toten?
ich weiß es nicht

ihr fragt
gibt’s
eine auferstehung der toten?
ich weiß es nicht

ihr fragt
gibt’s
keine auferstehung der toten?
ich weiß es nicht

ich weiß
nur
wonach ihr nicht fragt:
die auferstehung derer die leben

ich weiß
nur
wozu Er uns ruft:
zur auferstehung heute und jetzt

Kurt Marti musste seinen Stil, die Art seiner Kommunikation und Vermittlung ändern, ergänzen, um nicht an seinem Beruf und an sich selbst zu scheitern. 

In ähnlicher Weise sehe ich uns durch die Corona-Krise heute herausgefordert, nun nicht etwa auch Gedichte zu schreiben, sondern uns mit der je eigenen Sprache und Gestaltung darauf einzulassen. Die neuen Medien zwingen uns, gegenüber unseren monologen und analogen Reden kürzer, aber auch kurzweiliger, klarer, aber auch pointierter, mit Kurt Marti sogar radikaler und unberechenbarer zu werden. 

Vielleicht, so witzelte er einmal, hält sich Gott einige Dichter, damit das Reden von ihm jene heilige Unberechenbarkeit bewahre, die den Priestern und Theologen abhanden gekommen ist. Vielleicht hält er sich auch einige Designer, die Kirchenräume und Gemeindebriefe ausmisten, vielleicht auch ein paar gute alte Telefonseelsorgerinnen und Gässlaspfarrer, die ihr Geschäft jetzt neu entdecken. 

Aber ganz bestimmt lernten wir in dieser Corona-Zeit neue Leute kennen, die mit Kirche bisher wenig am Hut hatten, aber umso mehr von Kameraführung, vom Rendern und von Youtube verstehen und dadurch neuen Schwung in unsere Gemeinden brachten.

Es klingt ganz wunderbar, wenn Kurt Marti sagt: „Gott liebt das Monopol nicht. Es hätte ihm nicht gefallen, wenn alle Menschen Christen geworden wären.“ 

Über das zu schreiben, was Gott gefällt und was ihm nicht gefällt, ist er dann auch bekannt geworden. Seine „Leichenreden“ – die bekannteste ist die über gustav e. lips – haben kirchenweit dazu geführt, dass heute selten jemand am Grab zu sagen wagt: „Es hat Gott gefallen“.

Bei Kurt Marti spüren wir die Ränder, wo das, was bisher normal war, kippt oder zu kippen droht. Die Krankheiten und Krisen, von denen wir – weiß Gott! – jetzt genug mitbekommen in dieser Corona-Zeit. Es sind die „Gedichte am Rand“ und die „Nachtgeschichten“, die zugleich am Rand der Evangelien zu Hause  sind. Eine von ihnen, die Geschichte einer todkranken, einsamen Frau in einem Krankenzimmer,  gelesen von Margit Schoisengeier – möchte ich kurz einspielen. vimeo.com/487408770

Aus: Kurt Marti, Bruder der Nacht

Mitten im Leben, das zu kippen droht, aufzuatmen, aufzustehen, ist in Corona-Zeiten kinderleicht und sterbensschwer:

deine wehrlosigkeit
deine erstickbarkeit
o gott des lebendigen atems
warum ach hast du
dich selbst und alles was lebt
auf atmen aufgebaut?
eine welt aus hauch nur –
wie leicht
haucht sie aus.

 

Es besteht Hoffnung, die dunkle, tödliche Seite dieses Hauchs digital in Griff zu kriegen. Was das für Theologie und Kirche bedeutet? Die Diskussion darüber ist in vollem Gang. Hoffentlich kommen wir nicht zu spät.

Text: Heiner Weniger
Collage: Madame Privé