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Einen Baum umarmen
Einen Baum umarmen

Inzwischen habe ich Einzelne und Gruppen selbst schon öfters zum Meditieren oder Sprechen mit Bäumen nach draußen geschickt. Oft mit erstaunlichen Rückmeldungen. Nicht erst seit Franz von Assisi wissen wir, dass die Natur uns zu Gott ziehen kann. Der Streit, ob Gott sich neben seinem Wort auch sonst noch zu erkennen gibt, ist im 21. Jahrhundert meistens ausgestanden, und es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass wir uns heutzutage viel zu oft als „von der Natur getrennt“ denken und erleben. Dabei sind wir doch Teil der Schöpfung, und in der Natur zu beten hilft uns, mit unserer menschlichen Natur ganz frisch in Kontakt zu treten und unsere Einzigartigkeit und Gott-Ähnlichkeit zu spüren, aber es auch eben zu genießen, selbst Teil der Schöpfung zu sein. Meine Unterhaltungen mit Bäumen liefen bisher nie so, dass der Baum mir geantwortet hätte. Aber oft schon hat er mir geholfen, neue Perspektiven zu entdecken und sicher Geglaubtes  zu hinterfragen.

Hier will ich heute eine Art der Naturmeditation vorstellen. Sie ist an eine alte geistliche Übung, der „Lectio divina“ angelehnt (daher die lateinischen Bezeichnungen der Schritte). Diese Methode ist eigentlich für die Betrachtung der Schrift gedacht, aber sie funktioniert auch mit der Natur als Lesestoff, um die Großartigkeit der Natur, Gott in der Natur und uns selbst als großartigen Teil der Natur zu meditieren.

Gehen Sie nach draußen, in den Wald, auf die Wiese, und nehmen Sie sich mindestens 20 Minuten Zeit für diese Naturmeditation.

Schritt 1 (silencio): 

Versuchen Sie, ganz in der Gegenwart zu sein. Sitzen ist gut. Werden Sie still und bitten Sie Gott, Ihnen in den nächsten Minuten zu begegnen.

Schritt 2 (lectio): 

Schauen Sie sich um! Vielleicht gehen Sie ein paar Schritte und betrachten Ihr Umfeld sorgsam. Seien Sie aufmerksam dafür, dass ein Teil der Natur seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Das kann etwas Zauberhaftes oder Abstoßendes sein. Vielleicht entdecken Sie etwas, das Ihnen Energie gibt. Nehmen Sie sich Zeit, es still und ohne weiter nachzudenken anzuschauen. Sie dürfen ruhig starren. Und stellen Sie sich vor, Gott schaut mit Ihnen auf dasselbe Ding, denselben Ausschnitt.

Schritt 3 (meditatio): 

Bleiben Sie bei diesem einen Teil oder Ausschnitt; jetzt darf das Denken mit dazukommen. Gibt es eine Verbindung zu Ihrem Leben, jetzt in diesem Augenblick? Achten Sie auf Gedanken und besonders auch: auf Gefühle! Spricht Gott vielleicht gerade zu Ihnen, was diese Begegnung mit der Natur betrifft?

Schritt 4 (oratio): 

Wenden Sie sich an Gott. Wie auch immer.
Sagen Sie ihm, was Sie fühlen und denken. Vermeiden Sie, zu reflektieren oder zu beurteilen. Alles ist erlaubt, nichts muss erklärt werden.

Schritt 5 (contemplatio): 

Ruhen Sie sich in Gottes Armen aus, reflektieren Sie, was die letzten Minuten mit Ihnen gemacht haben. Vielleicht können Sie sich Gott ja ganz weit öffnen, über Formulierungen und Gedanken hinaus. Idealerweise ist dieser Schritt ein Gebet ohne Worte, voller Dankbarkeit und Freude. Sonnen Sie sich in der Freude darüber, wie Ihre menschliche Natur mit der Natur und mit Gott Gemeinschaft hatte.

So weit diese Methode. Vielleicht muss man sie ein wenig üben, bevor sie aufblüht. 

Viel Spaß!

Text: Jan Martin Depner
Artikelfotos: iStockphoto.com