Gesellschaft
Gib mir zu trinken

Ein warmer Tag. Der Wunsch nach einer erfrischenden Pause macht die Kirche heute besonders attraktiv. Die Kirchentür steht einladend offen. Wohltuend ist dieser Raum.

Die heiligen Frauen und Männer blicken mild von ihren steinernen Simsen herab.

Wieviel Jahrhunderte schon…

Fast bin ich am Eindösen, da fällt mein Blick auf eine junge Frau, die eben herein kommt, in der einen Hand eine Einkaufstasche, an der anderen ein Kind hinter sich herziehend. Bräunliche Gesichter mit schwarzen Augen und schwarzen Lockenhaar.

Wo die beiden wohl herkommen, denke ich – Südamerika, Spanien, Portugal. Unsicher schauen sie ich um. Dann gehen sie ein paar Schritte in den Raum hinein und plötzlich recht zielstrebig auf die hellblau und golden leuchtende Strahlenkranzmadonna zu.

Die Mutter zeigt hinauf und flüstert dem Kind leise etwas zu. Doch schon nach kurzem wendet sie sich wieder ab und beginnt in der Kirche hin und herzugehen, als ob sie etwas suchen.

Dabei nestelt sie an ihrer Tasche herum und zieht eine Plastikflasche hervor. In der Kirche trinken, na ja, sie denkt sich eben nichts dabei.

Doch dann sehe ich, die Flasche ist ja leer.

Die Frau steigt jetzt die Stufen zur Taufkapelle hinauf. Von der Absperrung lässt sie sich nicht abhalten und umrundet das große Taufbecken. Der ausgelöste Alarm ruft mich auf den Plan, unsere Blicke treffen sich und sie kommt schnell auf mich zu.

„Water please“, sagt sie und hält mir die Flasche hin. Ich begreife jetzt: sie ist auf der Suche nach Weihwasser. Ich erkläre ihr – so gut es sprachlich geht – dass sie sich in einer lutherischen Kirche befindet und sie hier kein Weihwasser finden wird. Zum Schluss erkläre ich ihr den Weg in die nahegelegene Frauenkirche.

Es ist ja auch verwirrend, die vielen Marienstatuen und Heiligen in unserer evangelischen Kirche gehen mir durch den Kopf. Gut, dass unsere Vorfahren sie haben stehen lassen. Kunstsinnig oder tolerant.

(Text: Jonas Schiller,
Illustration: Sabrina Oehme – Madame Privé)