Gesellschaft
Glück!?

Es ist Freitag, der 10. Juli 2015. Ein Mann hat gerade im Landkreis Ansbach die 82 jährige Anna A. beim Blumengießen erschossen. Kurz Zeit später zielt er auf einen Radfahrer und trifft ihn tödlich.

Hanjo von Wietersheim ist an diesem Tag auf einem Seminar in Augsburg. Sein Handy liegt griffbereit neben ihm. Immer wieder eilt er mit ernstem Gesicht hinaus und telefoniert. Mit der Polizei und den Rettungskräften sind auch Notfallseelsorgerinnen und – seelsorger vor Ort im Einsatz.

Hanjo von Wietersheim ist der Beauftragte der bayerischen Landeskirche für Notfallseelsorge und Seelsorge im Rettungsdienst und bei der Feuerwehr. Über die aktuelle Situation vor Ort wird er ständig informiert.

Falkensee 16. August 2011: Aufgrund eines schweren Autounfalls musste die A10 für 90 Minuten halbseitig gesperrt werden. Bei dem Unfall wurden zwei Personen schwer verletzt. Von der Aufnahmestelle des Photos bis zum Unfallort musste der Krankenwagen noch 10 Kilometer Stau meistern.

Hanjo von Wietersheim

Was sagt ein Notfallseelsorger über Glück? Wie hält man Unglück aus? Ich beschließe ihn zu interviewen und zwei Tage später „treffen wir uns“ am Telefon.

S.H.: Hanjo* , du bist der landeskirchliche Beauftragte für Notfallseelsorge und Seelsorge in Feuerwehr und Rettungsdienst. Was sind deine Aufgaben?

HvW: Ich koordiniere im Wesentlichen die Zusammenarbeit der Notfallseelsorge der Kirche mit den Rettungsorganisationen: Feuerwehr, Rettungsdienst und Polizei. Für diese Aufgabe habe ich eine halbe Stelle und zwei Stellvertreter, in Nord- und Südbayern. Die eigentliche Arbeit vor Ort, das machen die Seelsorgerinnen und Seelsorger in den Dekanaten.

S.H.: Wie bist du zu dieser Beauftragung gekommen und seit wann machst du das?

H.v.W.: Ich mache das jetzt ungefähr seit 26 Jahren. Dazu gekommen bin ich durch meine Arbeit. Ich war früher Polizeibeamter und habe im Rettungsdienst gearbeitet. Außerdem war ich ehrenamtlich bei der Feuerwehr. Durch die Einsätze bin ich darauf gekommen, dass es eigentlich wichtig wäre, dass Seelsorgerinnen und Seelsorger wirklich vor Ort sind. Dann habe ich angefangen zu überlegen, wie macht man das und wie lässt sich das organisieren.

S.H.: Für wen ist das wichtig?

H.v.W.: Das Wichtige ist die Betreuung der Geschädigten. Dass für die Menschen, die in Krisen drin stecken und denen was Schlimmes passiert ist, ganz schnell Seelsorgerinnen und Seelsorger da sind. Der zweite Bereich, den wir daraus entwickelt haben, ist die Seelsorge in Feuerwehr und Rettungsdienst. Das heißt die Begleitung und Unterstützung der Einsatzkräfte. Konkret, dass wir auch für sie da sind und wir zusammen daran arbeiten, wie man mit Stress und den Erfahrungen bei den Einsätzen umgeht.

S.H. Vor 26 Jahren hattest du diese Idee. Gab es da am Anfang Widerstände oder wurdest du mit „offenen Armen“ empfangen und alle waren froh darüber?

H.v.W.: Nee! Es gab schon ziemliche Widerstände! Pfarrerinnen und Pfarrer haben einfach ein schwieriges Renommee, dass sie viel rumquatschen, aber eigentlich nichts praktisches tun können. Die Einsatzkräfte dachten, stören die uns nicht mehr, halten uns auf und stehen im Weg. Erst nach und nach haben sie erkannt, dass Seelsorgerinnen und Seelsorger vor Ort hilfreich und für die Betroffenen wirklich gut sein können.

S.H.: Was sagte die Kirche damals dazu?

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Im Unglück das Glück zu finden,

ist fast undenkbar aber nicht unmöglich.

Es offenbart sich nicht sofort,

sondern zeigt sich oft erst im Rückblick,

wenn einer sagt,

gut dass du da warst und ich nicht allein war.

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H.v.W.: Die hat das zunächst sehr wenig ernst genommen. Viele Pfarrerinnen und Pfarrer dachten, dass ist ein „spinnendes“ Hobby von irgend so einem Blaulichtfreak. Sie hatten zum Teil selber große Angst in solche Situationen zu kommen. Denn es ist etwas ganz anderes, wenn ich mit Hinterbliebenen spreche, die zu mir zwei, drei Tage nach dem Todesfall ins Pfarramt kommen oder wenn ich wirklich vor Ort bin. An eine Unfallstelle zu kommen, ist eine existentielle Belastung, mit der man erst mal klar kommen muss. Viele hatten wirklich Angst davor. Wir haben aber die Erfahrung gemacht, wenn sie vernünftig ausgebildet wurden, dass sie das als sehr sinnvoll wahrgenommen haben.

Von Anfang an haben wir ökumenisch gearbeitet, also beide Kirchen zusammen.

S.H.: Welche Voraussetzungen braucht es, um als Notfallseelsorger tätig sein zu können?

H.v.W.: Von der Persönlichkeit her ist es wichtig, dass man mit Stress umgehen kann. Die Situationen sind schwierig. Man hat mit Tod und Leid zu tun und das muss man selbst erst mal verkraften. Dazu haben wir ein sehr kleines Zeitfenster, das bedeutet Zeitdruck. Bei einem plötzlichen Todesfall im häuslichen Bereich z.B., werden wir tätig solange der Tote noch im Haus ist! Denn das ist für die Angehörigen eine sehr schwierige Zeit.

Die fachliche Voraussetzung erwirbt man sich auf Fortbildungen auf Grundlage der Berufserfahrung eines Pfarrers. Wir haben auch Ehrenamtliche, die im Idealfall zuerst eine allgemeine Seelsorgeausbildung bekommen und dann die Fachausbildung im Bereich psychosoziale Notfallversorgung machen. Das ist ähnlich bei den ehrenamtlichen Mitarbeitern vom Roten Kreuz z.B., die in der Krisenintervention mitarbeiten. Hier gibt es mittlerweile auch eine ganz enge Zusammenarbeit!

S.H.: Zu welchen Situationen wird ein Notfallseelsorger in der Regel hinzugerufen?

H.v.W.: Es fängt an im häuslichen Bereich, wenn jemand plötzlich gestorben ist und die Familie damit nicht umgehen kann. Dann das Überbringen einer Todesnachricht zusammen mit der Polizei. Außerdem bei Verkehrsunfällen, bei Bränden oder wie in Ansbach bei einem Amoklauf. Es gibt Einsätze mit ein oder zwei Notfallseelsorgern bis zu solchen mit ganz vielen, wenn die Not vor Ort sehr groß ist.

S.H.: Du hast Ansbach genannt. Was kann ein Notfallseelsorger in so einer extremen Situation machen?

H.v.W.: Im Wesentlichen geht es darum, bei den Menschen zu sein. Das ist das Zentrale, was wir tun. Nicht durch Worte, sondern durch unsere reale Präsenz machen wir deutlich, du bist nicht allein in dieser Notsituation. Zusammen trauern wir und zusammen warten wir ab, was passiert. Das tut vielen Menschen sehr gut! Wenn Menschen einen religiösen Hintergrund haben, knüpfen wir daran an, beten z.B. zusammen. Das ist aber immer die zweite Linie.

S.H. Hat die Polizei die Wahl, einen Notfallseelsorger oder einen Psychologen vor Ort zu holen?

H.v.W.:In der Regel gibt es keine Psychologen, die man zum Einsatz holen kann. Die normalen Psychologen arbeiten alle in ihren Praxen und haben dort feste Termine. Sie können nicht so arbeiten wie wir Notfallseelsorger. Was es allerdings gibt, sind die Kriseninterventionsteams der Rettungsorganisationen. Sie haben eine ähnliche Ausbildung wie unsere Ehrenamtlichen in der psychosozialen Notfallversorgung. Sie arbeiten im gleichen Feld, aber nicht mit unserem religiösen Hintergrund. Mit denen arbeiten wir ganz oft ganz eng zusammen.

S.H. Gibt es gerade ein aktuelles Projekt, in das sich die Notfallseelsorge einbringt?

H.v.W.: Das ist „Sea watch“. Es ist eine kleine, private Organisation, die im Mittelmeer ein Schiff betreiben, das schiffbrüchige Flüchtlinge aufnimmt und sie dann 

zusammen mit anderen Organisationen rettet. Das ist eine sehr aufreibende Tätigkeit, weil die ehrenamtlichen Mitarbeiter direkt mit dem Leid konfrontiert werden und zusammen mit den Flüchtlingen auf die größeren Schiffe warten müssen. Wir betreuen diese Einsatzkräfte von „sea watch“ vor und nach dem Einsatz. Dabei werden wir finanziell von der bay. Landeskirche unterstützt.

S.H.: Das Thema des Heftes ist „Glück und Glück gehabt!“. Was sagst du als Notfallseelsorger dazu?

H.v.W.: Schwierig. Glück gehabt für mich, dass es mir gut geht und mir nicht so viel Schlimmes passiert wie anderen Menschen. Glück gehabt auch für die Menschen, denen wir rechtzeitig helfen konnten. Das ist dann Glück im Unglück. Es kommt manchmal vor, dass ich nach längerer Zeit eine Dankeskarte bekomme oder ich erfahre, dass es Menschen wieder gut geht.

Über Glück denke ich nicht anders nach als früher. Denn bereits als Polizist war ich schwierigen Situationen ausgesetzt und habe mich ihnen gestellt. Glück definiere ich als Zufriedenheit mit dem, was ich mache. Glück gehabt, weil ich anderen Menschen helfen kann.

S.H.: Kommst du durch deine Einsätze in Glaubenszweifel?

H.v.W.: Viele Menschen kommen in solchen Zweifel, dass sie fragen, warum lässt Gott das zu. Darauf haben wir in der Notfallseelsorge auch keine Antworten. Wir wissen nicht, warum es den einen trifft und den anderen nicht. Wir wissen nicht, warum das eine Schlauchboot im Mittelmeer gefunden wird und das andere untergeht. Es liegt sehr stark an der einzelnen Persönlichkeit wie man damit umgeht. Trotz allem, zweifle ich nicht an seiner Gegenwart.

S.H.: Man merkt wie du mit Leib und Seele dabei bist. Herzlichen Dank dir für deine Antworten!

* Hanjo von Wietersheim ist Pilger wie ich und deshalb duzen wir uns!

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Die Situationen sind schwierig.

Man hat mit Tod und Leid zu tun

und das muss man selbst erst

mal verkraften.

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