Gesellschaft
Kinder brauchen Grenzen
Kinder brauchen Grenzen

Wenn junge Menschen Eltern werden, überwiegt die Freude über den neuen Erdenbürger. Doch die Eltern müssen erst lernen, sich in ihrer neuen Rolle zurechtzufinden. Beinahe täglich macht Eva Rhode diese Erfahrung. Seit 30 Jahren ist die 64-jährige Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin in der Erziehungs- und Familienberatungsstelle der Stadt Nürnberg tätig. Inzwischen leitet sie die vier Beratungsstellen im Stadtgebiet mit 18 Mitarbeitenden.
Citykirche: Frau Rhode, wenn jemand die Erziehungsberatungsstelle aufsucht, dann gibt’s meistens Probleme mit dem Nachwuchs. Wie können Sie Müttern und Vätern helfen?
Eva Rhode: Wir sind für alle Nürnberger Familien da. Es können sich sowohl ein Vater als auch eine Mutter bei uns anmelden, aber auch Pflegeeltern. Im Erstgespräch, das auf Wunsch vertraulich ist und anonym geführt werden kann, vereinbaren wir miteinander ein Beratungsziel. Es geht darum, wie wir die Eltern unterstützen können. Das Alter der Kinder und Jugendlichen geht von null bis 21. Wir beraten deshalb auch viele junge Eltern und minderjährige Schwangere. Unser Ziel ist, dass die Familie eine eigene Lösung für ihre Probleme findet.

Was halten Sie von dem Erziehungsstil, Kindern keine Grenzen zu setzen, damit sie ihre eigenen Lebenserfahrungen machen können – möglichst ohne Einfluss von Erwachsenen?
Die Erziehungsexperten sind sich einig, dass es in einer guten Erziehung um die Vermittlung von Werten geht. Das setzt voraus, dass sich Eltern mit Grenzen beschäftigen und diese Grenzen altersgemäß vermitteln. Man nennt das die „autoritative Erziehung“. Damit ist gemeint, die Grenzen in einem liebevollen und unterstützenden Familienklima zu vermitteln. Das unterscheidet sich dann von der autoritären „schwarzen Pädagogik“, die viele Werte ohne Erklärung vermittelt und dabei hart und körperlich eingegriffen hat. Der pädagogische Stil, den Sie beschreiben, war in den 1970er Jahren die Gegenbewegung zur autoritären Erziehung.
Inzwischen wissen wir, dass die autoritäre Erziehung überholt ist. Wie aber sollen Eltern bei ihren Kindern die richtigen Grenzen setzen?
Zunächst ist ein gutes Fundament in der Familie notwendig. Dieses Fundament ist ein liebevolles und achtsames miteinander Umgehen. Je besser das Familienklima ist, umso eher werden Kinder und Jugendliche die Grenzen akzeptieren. Eltern, die auch auf ihre eigenen Bedürfnisse achten, haben weniger Probleme damit, Grenzen zu setzen und sie konsequent einzufordern, als Eltern, die es nicht geschafft haben, ein gutes Familienklima zu erzeugen. Kinder sollen sich geborgen, geliebt und geachtet fühlen. Grenzen zu setzen ist dabei immer ein Thema. Man muss bei Kleinkindern im Vorschulalter aber andere Grenzen setzen als bei Schulkindern. Jugendliche gehen immer an die Grenzen der Eltern, damit sie sich abnabeln und ihre eigene Welt entwickeln können. Grenzen setzen ist also abhängig vom Alter der Kinder.

Bei sehr kleinen Kindern könnte ich aber vermuten, dass das, was Eltern ihnen sagen, noch nicht verstanden wird.
Auch kleine Kinder wissen doch, wenn wir am Tisch sitzen, dass das Essen nicht auf den Boden geworfen wird. Man muss schon sehr frühzeitig anfangen, den Kindern zu erklären, wie man sich im Alltag verhält. Das können die ersten Hygieneregeln sein, wie ein Brot gegessen oder wie mit anderen Kindern zusammen gespielt wird. Eltern müssen ihre Kinder dabei anleiten und führen. Wenn sie ihr Kind unterstützen, können Eltern ihm schon ganz früh erste kleine Regeln beibringen.
Kinder lernen geduldig, wenn man ihnen in kleinen Schritten beibringt, wie sie sich verhalten sollen. Vor allem ist es wichtig, dass Eltern ihre Kinder loben. Die Kinder merken sich das, wenn sich Mama und Papa über sie freuen. Wenn kleine Kinder diese Alltagsregeln schon eingeübt haben, dann werden sie fähig, sich in einer Gruppe in der Krippe und der Kindertagesstätte einzufügen.

Es kommt also darauf an, dass Eltern konsequent sind und nicht heute diese und morgen andere Regeln und Grenzen setzen.
Das ist oft ganz schwierig für Eltern, wenn sie ihr erstes Kind bekommen: Welche Vorstellungen hast du von der Erziehung und welche habe ich? Mutter und Vater müssen erst selbst ihre Elternrolle lernen. Das ist ihnen ja nicht in die Wiege gelegt worden, wie ihr Kind.

Aus kleinen Kindern werden irgendwann Teenager, die machen, was sie wollen. Wie gehen Eltern mit der Situation um, dass Grenzen zum Teil ganz provokativ überschritten werden?
Pubertät ist die Zeit der Ablösung von den Eltern. Die „Pubertiere“ möchten die Regeln nach ihren Gefühlen und Bedürfnissen gestalten. Eltern sollen versuchen, von der reinen Verbotsebene wegzukommen und mit den Jugendlichen zu sprechen. Erwachsene machen sich Sorgen, weil der junge Mensch erst spät von der Party nach Hause kommt. Ich empfehle dann, nicht einfach ein Verbot zu setzen, sondern zu erklären, dass es den Eltern damit nicht gut geht. Jugendliche können davon lernen, dass sie nicht allein leben in ihrer Welt. Sie sollen mitbekommen, dass die Eltern nicht schlafen können, wenn man unpünktlich nach Hause kommt. Mit dem Smartphone könnte man Bescheid sagen, dass die U-Bahn abgefahren ist und man deshalb später daheim ist. Es ist halt alles eine Verhandlungssache zwischen Eltern und Jugendlichen.

Eine besondere Schwierigkeit ist auch, wenn es Geschwister in unterschiedlichem Alter gibt. Der eine darf schon etwas, was der andere noch nicht darf. Wie kann ich als Vater und Mutter damit umgehen?
Ein beliebtes Beispiel sind die Fernsehzeiten. Die sollten altersabhängig gestaltet werden. Zu klären ist, welche Fernsehsendungen ältere Kinder anschauen können. Dann müssen die Jüngeren schon ins Bett. Natürlich weckt das Neidgefühle. Eltern können dann sagen, dass der Ältere auch mehr Pflichten hat. Erziehung heißt, dass ich meinem Kind nicht alles abnehme, sondern dass es im Familienalltag Pflichten gibt und seien es nur kleine Erledigungen. Kleinere Kinder haben nicht dieselben Rechte, aber auch nicht ganz so viele Pflichten.
Was empfehlen Sie Eltern, die zu Ihnen kommen, weil ihr Kind die Grenzen immer wieder überschreitet und sich nicht an Regeln hält?
Zunächst frage ich genau nach, welche Grenzen das Kind nicht einhält. Manchmal wollen die Kinder ein bisschen mehr zeitliche Flexibilität, wenn es ums Aufräumen des Zimmers geht. Da kommt es dann zur Kollision mit den Ordnungsvorstellungen der Eltern. Vielleicht kann man darüber reden, bis wann die Kinder das Zimmer aufräumen. Es geht darum, die verschiedenen Vorstellungen in Einklang zu bringen.

Was ist aber zu tun, wenn es zu Ladendiebstählen oder ähnlichem kommt und das nicht nur einmalig, wenn Eltern also feststellen, dass sie keinen Einfluss mehr auf ihren Nachwuchs haben?
Das ist dann der vollständige Verlust von Respekt und Achtung in der Familie. So eine Entwicklung hat meistens eine längere Vorgeschichte. Die Frage ist, was das Familiensystem so sehr ausgehöhlt hat, dass kein Vertrauen mehr vorhanden ist. Erziehung kann nur gelingen, wenn Liebe und Achtung vorhanden sind. Oft hat es dramatische Ereignisse in der Familie gegeben, Trennung oder Scheidung, Krankheiten oder psychische Belastungen. Dann stellt sich die Frage, welche Unterstützung die Familie braucht. Die Eltern wollen immer das Beste für ihr Kind, aber sie  schaffen es nicht. Manche erzählen mir dann, dass sie ihrem Kind seit Jahren nicht mehr zugehört haben und deshalb nicht wissen, wie es ihm geht. Sie stellen nur fest, dass es sich nicht an die Regeln hält.
Dann muss wieder mehr Nähe innerhalb der Familie aufgebaut werden.

Ihre Beratungsstelle ist ein Teil des Jugendamts. Muss sich jemand Sorgen machen, dass die Behörde eingreift, wenn man hier zur Erziehungsberatung kommt?
Nein. Wir unterliegen der Schweigepflicht. Es wird nichts weitergegeben. Eine Ausnahme gibt es nur, wenn uns die Eltern schriftlich erlauben, dass wir mit dem Hausarzt oder dem Lehrer des Kindes sprechen dürfen.

 

Interview: Paul Schremser
Bilder: Madame Privé

 

 

INFO:

Eltern können sich kostenlos an
Erziehungsberatungsstellen der Stadt
Nürnberg oder der Stadtmission
wenden:

Beratungsstelle des Jugendamts
Johannisstr. 58, Nürnberg
Telefon 0911 2313886

Beratungsstelle Mammut des Jugendamts
Schoppershofstr. 58, Nürnberg
Telefon 0911 2312985

nuernberg.de/internet/jugendamt/
erziehungsberatung.html#43
Erziehungs-, Paar- und Lebensberatung der Stadtmission Nürnberg
Rieterstr. 23, Nürnberg
Telefon 0911 352400

stadtmission-nuernberg.de/kinder-
jugend-und-familie/erziehungs-
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