Kultur
„Big Brother is watching you“
Willkommen in der schönen neuen Welt!

Orwell beschrieb das im Jahr 1949 völlig Undenkbare. England würde von einer Einheitspartei, dem „Englischen Sozialismus“ (EngSoz) regiert, an dessen Spitze der ominöse „Große Bruder“ steht, der überlebensgroß von jeder Hausmauer prangt und aus jedem Lautsprecher tönt. Vor dem Blick des „Großen Bruders“ gibt es kein Entrinnen.
Der bis 1984 erreichte technische Fortschritt erlaubt die nahezu lückenlose Überwachung jedes Untertanen mit Hilfe von Teleschirmen, die sich nicht abstellen lassen und über die die Propaganda der Partei wirkungsvoll verbreitet wird. Und sollte sich doch einmal Widerstand regen, so greift das in die Bevölkerung gesäte Misstrauen und die Indoktrination durch die Propaganda, die selbst Kinder ihre nicht mehr ganz linientreuen Eltern verraten lassen. Aber damit nicht genug. Die Partei hat sich zum Ziel gesetzt, das Leben jedes einzelnen bis in die Gedanken hinein zu kontrollieren. Zu diesem Zweck wird nicht nur ständig die Geschichte umgeschrieben, so dass im Grunde niemand mehr wissen kann, was nun Wahrheit oder Lüge ist.

Es wird sogar eine neue Sprache erfunden, das sogenannte „Neusprech“, in dem alle als anstößig empfundenen Wörter – wie beispielsweise „Freiheit“ – ausgemerzt worden sind, damit es nicht mehr möglich ist, anders zu denken als die Partei es will, weil die für ein Andersdenken notwendigen Worte nicht mehr existieren.
In Orwells Dystopie ist die Welt in drei Großmächte aufgeteilt, die sich in ständig wechselnden Koalitionen gegenseitig bekriegen und man im Grunde gar nicht mehr weiß, wer gerade mit wem Krieg führt.
Letztlich spielt das aber keine Rolle, da es der Partei nur darauf ankommt, ein Feindbild zu haben, durch das die Bevölkerung zusammengeschweißt wird, um es von den schrecklichen Lebensumständen abzulenken.

Diese äußerst knappe Inhaltsbeschreibung von Orwells Roman mutet vertraut an, nicht nur, weil ihre Motive längst Eingang in die Popularkultur gefunden haben („Big Brother“), sondern auch, weil sie uns an tatsächliche historische Ereignisse zu 

erinnern scheinen. Je weiter sich die beiden Groß-mächte des Westens und Ostens, die beiden Systeme des Kapitalismus und des Kommunismus in einen „Kalten Krieg“ hinein manövrierten, desto klarer musste es nämlich aus westlicher Sicht werden, das Orwells Dystopie in jenen Ländern zur Wirklichkeit geworden war, die unter sozialistischer Herrschaft standen. In gespenstischer Weise begannen sich Fiktion und Wirklichkeit einander anzunähern, so als hätte Orwell nicht nur eine Geschichte geschrieben, sondern in quasi-prophetischer Hellsichtigkeit die historische Entwicklung zumindest in einigen signifikanten Merk-malen vorweggenommen. Wie sehr sich Fiktion und Wirklichkeit einander glichen, das begriff man aber erst nach dem Ende des Ostblocks, als man nun einen Einblick bekam in die Machenschaften der Staatsapparate, in die Arbeit der Geheimpolizeien, in die Gefängnisse.

Das Ende der kommunistischen Schreckensherrschaften ereignete sich nur wenige Jahre nach der von Orwell für seinen Roman angesetzten Jahreszahl 1984.

Dadurch konnte es den Anschein haben, als wäre aus dem Kampf zweier Systeme nun der Westen endgültig als Sieger hervor-ge-gangen. Nicht nur, dass die Demokratie über die Diktatur gesiegt hat, es hat auch der Kapitalismus über die sozialistische Wirtschaftsweise gesiegt. Und beides, Demokratie und Kapitalismus, so mutet es uns bis heute an, gehen als Geschwister Hand in Hand. Außerdem schien der Beweis er-bracht worden zu sein, dass sich der Mensch allenfalls für ein paar Jahre oder Jahrzehnte der Herrschaft einer Ideologie beugen würde. Irgendwann würde er erwachen, dagegen aufbegehren und das wahre Leben von selbst ergreifen. Schon sprach man vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama), und man glaubte, Orwells Buch beiseite legen zu können, denn die zur Wirklichkeit gewordene Fiktion war ja zurück ins Buch gebannt worden. 

Orwells Fiktion war so nachhaltig prägend, so augenfällig, dass darüber eine andere Dystopie fast in Vergessenheit geraten ist. Gut 20 Jahre vor Orwells Buch hat der Oxforder Literaturprofessor Aldous Huxley (1894-1963) eine ganz anders geartete Zukunftsvision entworfen, die zu ihrer Zeit – man schreibt das Jahr 1932 – tatsächlich reine Zukunftsmusik und nie wirklich realisierbar zu sein schien, auch wenn es bereits einige Vorboten gab.

Huxley beschreibt eine Welt, die nicht weniger ideologisch, nicht weniger unterdrückend ist als diejenige Orwells, mit dem kleinen aber entscheidenden Unterschied, dass niemand jemals auf den Gedanken kommen würde, gegen diese Welt aufzubegehren und sie durch eine Revolution abzuschaffen.

Insofern ist es die zur Perfektion gereifte Ideologie. Niemals käme jemand auf diese Idee, nicht, weil die Menschen über ein lange Jahre andauerndes Umerziehungsprogramm unter An-drohung drakonischer Strafen darauf getrimmt worden wären, nicht, weil – wie es Orwell schreibt – eine neue anerzogene

 Sprache (das „Neusprech“) das Denken so einengt, dass kein anderer als ein linientreuer Gedanke mehr möglich ist.

Niemals käme jemand auf diese Idee, weil nach Huxleys Vision das Denken auf eine so perfide Art betäubt worden ist, dass niemand mehr auf diese Idee kommen will.

Huxley verlegt seine Dystopie in eine ferne Zukunft, die – so erfährt man es nur am Rande – nach einem verheerenden Weltkrieg angesiedelt ist. Als Folge hat sich die überwiegende Mehrheit der Welt-bevölkerung in einen Welteinheitsstaat zusammengeschlossen, der seit dieser Zeit die Ge-schicke der Menschheit und das Schicksal jedes einzelnen Menschenlebens zentral steuert. Damit es nie wieder zu einem solchen Krieg kommt, wurden mehrere Maßnahmen ergriffen, die freilich erst durch den wissenschaftlichen Fortschritt möglich gemacht worden sind. Als die noch geringsten Maßnahmen können die Einführung einer neuen Zeitrechnung und einer neuen alle bisherigen Philosophien und Religionen ersetzenden Ideologie gelten. Das gesamte System baut darauf auf, dass sich die Menschheit nicht mehr auf natürliche Weise vermehrt und Kinder von ihren Eltern aufgezogen werden. Vielmehr werden Menschen außerhalb des Mutterleibs in besonderen Einrichtungen gezüchtet und selektiert.
Die so entstandenen Menschen werden nach staatlich geregeltem Bedarf in Kasten eingeteilt: Alphas bilden die höchste und Epsilons die niedrigste Kaste. Zudem erhalten alle Menschen von klein auf eine besondere Konditionierung und Indoktrination, die ihre moralischen Vorstellungen und Verhaltensweisen prägen. So ist beispiels-weise Monogamie verpönt und Promiskuität die staatlich sanktionierte Lebensform. In dieser Gesellschaft kommt niemals jemand auf den Gedanken, dass es auch anders sein, dass es auch ein anderes Leben geben könnte.
Dafür sorgen die zahllosen Vergnügen, wie beispielsweise das sogenannte „Fühlkino“, bei dem auch das körperliche

Empfinden der Darsteller auf die Zuschauer übertragen wird. Dafür sorgt der quasi-religiöse Verehrungskult des Automobilbauers Henry Ford und die regelmäßigen „Gottesdienste“, in denen die Ideologie aufgefrischt wird. Dafür sorgt nicht zuletzt die jedem zugeteilte Droge „Soma“, die stimmungsaufhellend und sexuell anregend wirkt, um negative Gefühle und Schmerzen auszublenden. So lebt der Mensch glücklich und zufrieden, ohne Krankheiten und ohne ein sichtbares Zeichen des Alterns, bis er mit 60 oder 70 Jahren schnell und schmerzlos im Soma-Halbschlaf dahinstirbt.

Orwell oder Huxley – wer hat Recht behalten? Neil Postman (1931-2003), der streitbare amerikanische Medienkritiker, hat die Ansicht vertreten, dass Huxley und nicht Orwell Recht behalten sollte, zumindest in der westlichen Welt der 1980er und 1990er Jahre. Es sei die dort schleichend zur Herrschaft gelangende Unterhaltungsindustrie in Form des Fernsehapprates, die ein ganzes Volk der Verdummung preisgibt. Ob dies tatsächlich zutrifft, das wird jeder für sich selbst beantworten müssen. Aber vielleicht ist es doch anders gekommen. Orwell und Huxley kannten sich. Huxley war Orwells Literaturprofessor während seiner Zeit in Eton.

Zieht man die vor über einem Jahr enthüllte globale Überwachungs- und Spionageaffäre und von uns selbst willfährig betriebene Preisgabe von persönlichen Informationen bei Google, Amazon und Facebook in Betracht, dann scheint es, als hätten sich beide gegen uns verschworen:

Orwell kombiniert mit Huxley. Das ist

die Welt, in der wir leben.

(Text: Thomas Melzl, Foto: www.istockphoto.com)