Kunst
Niemand hatte bisher an dieser Stelle so schöne Darstellungen erwartet und gesehen.
Unbeachtete Kostbarkeiten in St. Sebald

Bei Arbeiten in den beiden Seitenschiffen von St. Sebald wurden die Restauratoren aufmerksam auf Gewölbe und Rippenschlusssteine im Südseitenschiff – wegen der Schönheit der Farben, der Qualität der Ausführung und des Bildprogramms. Die Seitenschiffe sind in der heutigen Gestalt um 1310 entstanden, als die ursprünglichen verbreitert wurden.
Niemand hatte bisher an dieser Stelle so schöne Darstellungen erwartet und gesehen, ist doch das südliche Seitenschiff nicht so mit Epitaphien und Heiligenfiguren geschmückt wie das nördliche, in das man heute beim Betreten der Kirche zunächst gelangt.

Im Mittelalter erfolgte aber der Zugang zur Kirche durch verschiedene Portale, die – je nachdem, woher die Menschen kamen – bestimmte Aufgaben und Funktionen hatten:

> Waren es familiäre Angelegenheiten, so
diente hierfür das Marienportal auf der Nordseite der Kirche – als „Tauftüre“, durch die man zur Kindstaufe einzog, und als „Anschreibtür“, an der die Gemeinde die Namen der Toten erfuhr, als nicht mehr auf dem Friedhof nördlich der Kirche bestattet wurde. Brautpaare zogen von der Nordseite her durch das „Brautportal“ ein.

> Kamen die Menschen von ihren Geschäften, so betraten sie die Kirche an der Südseite, von der Stadtwaage her kommend, durch das „Weltgerichtsportal“. Hier wurde ihnen im Tympanon (Bogenfeld über dem Türsturz) gezeigt, dass am Ende der Tage ihr Tun gerichtet werden würde.

> Der Kaiser schließlich zog auf der Südseite durch das Portal beim Marienaltar ein. Die Figuren der „Heiligen Drei Könige“, die außen am Portal stehen, waren ein passender Rahmen dafür.

Deshalb besaß das Weltgerichtsportal, dessen Tympanon im Mittelalter farbig gefasst war, für die Kirchenbesucher eine ganz andere Wichtigkeit als heute. Und so waren bei diesem Portal auch die Schlusssteine im Südseitenschiff mit einem Bildprogramm versehen, das die Bedeutung dieses Eingangs unterstreicht und den damals meist leseunkundigen Menschen biblisches Wissen in leuchtenden Farben nahe brachte.

Der Gewölbeschlussstein in der Nähe des Portals zeigt eine Kreuzigungsgruppe (1), so fein gestaltet, als wäre sie aus Holz geschnitzt – mit Darstellungen der Grablegung und weinender Engel (2) an den Seiten. Die westlich davon hängenden Schlusssteine bilden den Evangelisten Markus als geflügelten Löwen und Lukas als Stier ab; letzterer zeigt an zwei Seiten je ein goldenes Gesicht, das in Blätter übergeht. Die östlich davon hängenden Schlusssteine zeigen die Evangelisten Johannes als Adler und Matthäus als Engel (3). Letzterer hat an den Seiten eine Darstellung des Pelikans, der seine Jungen füttert, und einen Löwen, des seinen Jungen den Lebensodem einhaucht (4).

Diese aufwendig gestalteten Schlusssteine (auch floral – 5) betonen die Bedeutung dieses Portals: Sie zeigen eine leuchtende Farbigkeit, wie sie wohl auch außen am Tympanon des Weitgerichtsportals zu sehen war. Die Farben sind, wegen des geschützten Platzes, noch großteils original, etwa 700 Jahre alt und kaum überfasst oder ausgebessert.

Die Schlusssteine können ab September 2014 wieder bewundert werden, wenn die Gerüste abgebaut sind.
(Text: Christian Dannenfeldt, Fotos: Eberhard Holter)