Kirche
Wer war Alamire?

Eine musikalische Spurensuche, ausgehend von Nürnberg bis zu den zentralen Herrscherhöfen zur Reformationszeit.

Pierre Alamire war einer der bedeutendsten und begabtesten Musiker im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert. Zwischen etwa 1495 und 1535 erstellte Alamire einen Komplex aus 47 Handschriften und vierzehn Folios und Fragmenten, die eine umfangreiche Sammlung des zeitgenössischen Repertoires der frankoflämischen Polyphonie darstellen. Er schuf damit eine homogene, vielschichtige Zusammenstellung von kostbaren und wertvollen Musikhandschriften der frankoflämischen Musiker.

Bei der Mehrzahl dieser Handschriften handelt es sich aber nicht um Gebrauchshandschriften, sondern um kostbare Präsente als Gunstbeweise, mit prächtigen Illustrationen und Kalligraphie der so genannten Gent-Brügge-Schule. Ende März fand ein Konzert mit Musik aus diesen Musikhandschriften in der Egidienkirche statt, zu dem eine Videoprojektion die entsprechenden Illustrationen zeigte.

Ist Pierre Alamire der Franke Peter Imhoff?

Doch wer verbirgt sich hinter dem ungewöhnlichen Pseudonym Alamire, der eine musikalische Referenz ist, die sich aus der Tonhöhe „A“ und den sogenannten Solmisationssilben „la“, „mi“ und „re“ der Tonleiter zusammensetzt?

Zwei Dokumente weisen darauf hin, dass Alamire aus Nürnberg stammte: In einer Rechnung für ein Chorbuch wird er als Petrus Alamire Van Nuerenborch und in einem weiteren Dokument aus Antwerpen als Petrus Imhove (oder Imhoff, van der Hove) bezeichnet. Die Forschung geht davon aus, dass Pierre Alamire oder Petrus Imhoff um 1470 in Nürnberg geboren wurde. Die Patrizierfamilie Imhoff war eine europaweit tätige Handelsgesellschaft und hatte beste Verbindungen nach Flandern, wohin die Familie auch übersiedelte. Dort wird Alamire innerhalb kurzer Zeit als Musikalienhändler, Komponist, Kopist, Instrumentalist und Diplomat tätig. Im Zusammenhang mit einem Musikbuch für die burgundisch-habsburgische Hofkapelle Philipps des Schönen (Sohn von Kaiser Maximilian I.) und seine Frau Maria von Burgund wird 1503 Antwerpen als Wohnort Alamires genannt. Hier hatte er sich mittlerweile ein Haus gekauft. Man geht davon aus, dass er durch Kontakte seiner Familie dort schnell Fuß fassen konnte und schon viel länger in dieser Stadt und Metropole des europäischen Händlerwesens lebte. Ab 1516 belegen Antwerpener Akten Mechelen als seinen permanenten Wohnort.

An der burgundischen Hofkapelle

Spätestens seit Januar 1508 war Alamire Mitglied der burgundischen Hofkapelle des jungen Erzherzogs und späteren Kaisers Karl V. Zunächst als Mitglied der kleinen privaten Kapelle, danach ab 1517 der großen Hofkapelle. Die kleine Kapelle (chapelle domestique) bestand aus sieben Sängern, einem Organisten, vier Knaben, einem Orgeltreter, einem Priester und zwei Instrumentalisten. Sie hatten täglich bei Messen und Stundengebeten zu singen und zu spielen. Als Kopist wird er in dieser Zeit zweimal erwähnt: 1509 und 1511. Im Auftrag Maximilians fertigte er zwei große Chorbücher an – eines für den Kaiser selbst und eines für Magarete als Neujahrsgeschenk. Verblüffend ist der Vermerk, dass Alamire dem Kaiser die Bücher persönlich überbrachte.

Selbst Papst Leo X., dessen Vorliebe für frankoflämische Musik bekannt war, erhielt mindestens drei Bücher von ihm zwischen 1515 und 1517, die in der Bibliothek des Vatikans bis heute aufbewahrt werden. Für seine Kapelle hatte der Papst verschiedene frankoflämische Musiker engagiert. Man kann deshalb davon ausgehen, dass er die burgundischen Präsente zu schätzen wusste. Die ihm zugedachten Chorbücher zeichnen sich durch umfangreiches musikalisches Material, aufwändige Gestaltung und feine Verzierungen mit Miniaturen aus. Eines der Hauptwerke des Konzertes in der Egidienkirche – eine Messe des jungverstorbenen hochbegabten Komponisten Jacobus Barbireau – ist in einem dieser Codices verzeichnet.

Die Musikhandschriften als Machtinstrument

Auch an den Hof des sächsischen Kurfürsten Friedrichs des Weisen in Torgau gingen zwischen etwa 1500 und 1525 viele Handschriften. Ein Teil der Werke weisen diesen anhand der Illustrationen als direkten Empfänger aus. Die frühen Aufträge für Alamires Handschriften sind auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass Friedrich der Weise 1486 begann, an seinem Hof in Torgau eine Hofkapelle aufzubauen. So stattete er einigen Hofkapellen, darunter auch der burgundisch-habsburgischen, um die Jahrhundertwende einen Besuch ab und beschaffte seiner neu gegründeten Kapelle geeignetes Notenmaterial.

Manche der Musikhandschriften wurden dabei gezielt machtpolitisch eingesetzt: Mit den Manuskripten, die Margarete von Österreich um 1518 an Friedrich den Weisen sandte, wollte diese seine Gunst erlangen. Denn ihr Neffe Karl war nach dem Tod seines Vaters Philipp des Schönen und seines Onkels Johann von Aragon und Kastilien der nächste Verwandte von Kaiser Maximilian I. Da Kaiser Maximilian in diesen Jahren bereits selbst kränkelte, galt es das Machtgefüge im heutigen Europa neu auszubalancieren und auch Friedrich der Weise galt als möglicher Nachfolger. Die Manuskripte Alamires können so vor den schließlich erfolgreichen Bemühungen verstanden werden, dass Friedrich von seiner eigenen Bewerbung Abstand nehmen und für Karl als König stimmen sollte.

Der Musiker als „Postbote“ …

Aber nicht nur das. Alamire befand sich in der Zeit der Kaiserwahl in Augsburg und wurde als Botschafter eingesetzt. So schreibt der Sekretär von Margarete von Österreich an sie, dass er Alamire gedrängt habe, den sächsischen Kurfürsten zu besuchen und herauszufinden, wer dessen Gäste wären. Dabei betont er, dass Alamire am Hof des Kurfürsten kein Fremder sei. Während seiner diplomatischen Mission in Sachsen betätigte er sich auch als Kurier und überbrachte diverse Briefe, u.a. von dem ursprünglichen aus Spalt stammenden Georg Spalatin, der Karriere als Sekretär Friedrich des Weisen in Wittenberg gemacht hatte und mit Erasmus von Rotterdam korrespondierte. Obwohl Alamire kein sehr zuverlässiger „Postbote“ war, zeigten sich beide Männer sehr geduldig: 1519 schreibt Erasmus, dass der Brief, auf den er jetzt antworten würde, zwei Jahre gebraucht habe, um ihn zu erreichen. Alamire sei ein amüsanter Mensch. Zehn Tage später erhält er von Alamire weitere Briefe zugestellt, u.a. von Pirckheimer und Behaim aus Nürnberg, worauf er an Spalatin ironisch schreibt: „Wenn Du einen Brief versenden möchtest, der gut beschützt zu sein hat, dann übergib ihn Alamire, wenn Du aber einen Brief versenden möchtest, der rechtzeitig überbracht werden soll, dann gib ihn einem anderen Boten.“

Auch Willibald Pirckheimer, der mit Alamire durch Heirat verwandt war, beschwert sich, dass dieser Briefe spät überbringe oder sogar verlöre. Er habe Erasmus öfters geschrieben, aber nie Antwort bekommen. In einem der Briefe (vom 30.4.1520) deutet er sogar an, 

dass Erasmus in Nürnberg zum Besuch Karl V. erwartet worden sei, der dort den 1. Reichstag hielt. Alamire habe die Unterkunft für Erasmus zuvor extra begutachtet und für wunderschön, ja sogar für palastartig empfunden. Das Einladungsschreiben selbst ist aber wohl nie bei seinem Empfänger angekommen, so dass das Zimmer beim Reichstag leer blieb.

… und als Spion

Alamire trat dabei nicht nur als Bote zwischen den Herrscherhöfen Europas auf, sondern verfasste selbst zahlreiche Briefe, weshalb man ihn auch als Spion bezeichnet muss. Vier Briefe von Alamire sind an den englischen König Heinrich VIII. erhalten und mehr als 20 vom englischen Botschafter in den Niederlanden, die Alamire erwähnen. Dass Musiker als Spione eingesetzt wurden, war in dieser Zeit aber nichts Ungewöhnliches, da sie viel zwischen den Höfen unterwegs waren und das gängige Protokoll im wahrsten Sinne des Wortes spielend durchkreuzen konnten.

Auch wissen wir, dass Alamire Kontakte zu einem Bediensteten knüpfte, der bei ihm ein Chorbuch für Richard de la Pole in Auftrag gibt. De la Pole war einer der ernstzunehmenden Konkurrenten um den Thron Heinrichs VIII. von England. Alamire übergibt dieses Chorbuch sowie Briefe an de la Pole persönlich und lässt sich doppelt belohnen: von de la Pole für das Chorbuch und von Heinrich VIII. für die Wiedergabe des Inhalts der Briefe. Allerdings traute man Alamire am englischen Hof nicht richtig, weil man annahm, dass dieser Sympathien für Richard de la Pole entwickelt habe. Nach einigen Reisen und noch mehr Briefwechseln hin und her will Alamire dem englischen Lordkanzler durch zahlreiche Informationen über de la Pole
und dessen Aktivitäten seine Vertrauenswürdigkeit unter Beweis stellen. Kurz danach beschwert er sich, dass er bisher keinerlei Bezahlung für die jüngst gelieferten Musikbücher und Instrumente bekommen, dafür aber eine große Summe selbst bezahlt habe und nun ärmer sei als vorher.

1523 stellt Alamire verschiedene Chorbücher für Kaiser Karl V. her, für die er die immense Summe von 200 Pfund erhielt. 1534 erhält er im Namen der Regentin Maria von Ungarn eine Pension. Am 26. Juni 1536 stirbt Petrus Alamire in Mechelen. Er hinterlässt insgesamt mehr als 60 Handschriften, die die Summe der flämischen Musik der Renaissance überliefern.

(Text: Pia Praetorius / Bilder: Archiv St. Egidien)