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Die Geschichte von Kain mal anders erzählt
Als Gott gefragt wurde, was er von Beruf sei, antwortete er „Tätowierer“

Wir essen vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, und wir sehen und wir erleben beides. Doch während das Gute irgendwie leichter in Vergessenheit gerät, ist das Böse richtig klebrig und zäh. Wie Raucherteer auf der Lunge lagern sich rußige Gedanken ab und ummanteln die Seele. (Uwe Vetter)

Kain wusste ganz genau, wann die rußigen Gedanken anfingen. Auf die Sekunde genau hätte er den Zeitpunkt sagen können, nämlich: Als sein Herz für einen Augenblick stillstand. Als er den Blick senkte. Als seine Lippen bebten, aber alles totenstill war. Als sein Bruder Abel vor Glück strahlte, weil Gott dessen Opfer angenommen hatte, hämmerte es in seinem Kopf. Nichts bist du, abgelehnt bist du. Wertlos ist, was du tust. Erfolg gebührt dem anderen, aber nicht dir. Abgelehnt. Alles in ihm war Zorn. So stark, so mächtig, so mitreißend, so stumpf, dass er seinen Bruder Abel totschlug. Er hätte den Zeitpunkt exakt sagen können, wann die rußigen Gedanken anfingen, aber keiner fragte ihn danach.

KEINER. FRAGTE. Denn für ALLE war er nur das, ein MÖRDER: Gejagt und gehetzt irrte er seitdem umher. Manchmal hätte er am Morgen die Menschen anschreien mögen: „Ihr wisst doch gar nicht, wie es mir geht. Es interessiert euch nicht. Wie würde ich mir wünschen, dass ich büße, leide, ganz verrecke. Ihr wisst gar nicht, wie ich es aushalte. Wie ich diese furchtbare Situation einfach nur aushalte und nicht mehr weiß, wie ich sie noch einen einzigen Tag länger aushalten soll? Wie ich keine Kraft mehr habe, zu kämpfen, mich zu verstecken, mich zu verteidigen.

Wie ich die Blicke der Menschen nicht mehr ertrage, wie ich mir vorstelle, was sie über mich reden, wie niemand, wirklich gar niemand, gar, gar, gar niemand zu mir kommt und fragt, wie es in mir aussieht. Wie mich alle jagen, treiben, hetzen. Wie die rußigen Gedanken mich selbst jagen, treiben, hetzen. Wie sie an kleben, als ob sie Teer wären. Manchmal möchte ich nur weinen. Wie soll ich das ertragen? Wer kann das überhaupt ertragen? Wie ich dieses Wort ,ertragen´ hasse. Ich kann nichts mehr tragen. Es ist zu viel. Ich kann nicht mehr.“

Da holte Gott seine Tattoonadel. Er brachte auf Kain ein Zeichen an. Sichtbar für alle. Jeder, der es sah, wusste in diesem Augenblick: Kain ist kein Freiwild. Er ist ein Mensch, er hat eine Würde, er wird geliebt und ist Gott heilig. Und Kain? Zärtlich berührte er jeden Morgen dieses wundersame Zeichen, vergewisserte sich, dass es noch da war. Sein Tattoo, sein Zeichen, sein Schutz gegen alles Böse, aber vor allem anderen ein heiliges Versprechen: „Siehe, ich bin bei dir, alle Tage bis an der Welt Ende.“

Wir alle machen Fehler. Wir verletzen andere durch Worte und Taten, werden verletzt und tragen alle Narben von den Kämpfen in uns. Können Sie sich vorstellen, dass wir alle so ein unsichtbares Zeichen an uns tragen, ein heiliges Versprechen? Ich glaube, ja.

Womöglich tragen wir alle dieses Zeichen, nur wissen wir es nicht.

 

Text: Simone Hahn
Artikelfoto: iStockphoto.com