Themenartikel
Bewahrerin der Reichskleinodien: Nürnberg

Die Weisheit der Städte. Eine Begegnung. Der vielfach ausgezeichnete Architekt und Architekturtheoretiker Vittorio Magnago Lampugnani (ETH Zürich) lädt in seiner Bildungsrede an dem Ort, an dem sich in der Reformationszeit der Wechsel von einem Kloster zur Predigtkirche und Schulinstitution vollzog, zu einer Sehschule ein.

Die 2. Nürnberger Bildungsrede auf dem Weg zum 500. Gründungsjubiläum des Melanchthon-Gymnasiums im Jahr 2026 findet am 23. Mai 2017 in St. Egidien statt.
Am 23. Mai 1526 wurde in Nürnberg die „Obere Schule“, das „Gymnasium bei St. Aegidien“, mit einer „Lobrede auf die neue Schule“ durch Philipp Melanchthon eingeweiht. Es sollte, gegründet vom Rat der Stadt und basierend auf Philipp Melanchthons anspruchsvoller humanistischer Bildungskonzeption, die alten Lateinschulen Nürnbergs ablösen. In seiner Rede formulierte Melanchthon den zeitlos gültigen Satz an die Nürnberger Räte: „Wenn auf eure Veranlassung hin eure Jugend gut ausgebildet ist, wird sie eurer Vaterstadt als Schutz dienen; denn für die Städte sind keine Bollwerke oder Mauern zuverlässigere Schutzwälle als Bürger, die sich durch Bildung, Klugheit und andere gute Eigenschaften auszeichnen“. Fast 500 Jahre später graben die Kirchengemeinde St. Egidien und das damals gegründete Melanchthon-Gymnasium diese gewissermaßen erste Nürnberger Bildungsrede wieder aus und träumen davon, bis zum Schuljubiläum 2026 einmal im Jahr eine zukunftsweisende neue Bildungsrede an die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Nürnberg halten zu lassen, damit eine sinnvolle Aktualisierung des eigentlich zeitlosen Themas von Philipp Melanchton, was der Stadt zum Besten gereiche, möglich wird. In diesem Jahr wird Vittorio Magnago Lampugnani, Architekt und Architekturtheoretiker, der an der ETH Zürich Geschichte des Städtebaus lehrt, über „Die Weisheit der Städte. Eine Begegnung“ sprechen. Dahinter verbirgt sich nicht weniger als der Aufruf, gemeinsam Sehen zu lernen, was alles in der Gestalt unserer Städte aufgehoben ist, was gesehen, verstanden und eingeordnet werden muss, um die Städte menschengerecht gestalten zu können. Mit Worten Lampugnanis ausgedrückt: „Das Studium der Städte der Welt erschließt eine Art Thesaurus von Elementen, Straßen, Plätzen, Höfen, Passagen, Parkanlagen, Flußkais und Esplanaden, die in unzähligen (und oft wunderbaren) Ausprägungen variiert nur darauf zu warten scheinen, ausgemessen, untersucht, neu erfunden und umgesetzt zu werden. Zugleich gibt es dadurch, dass es diese Elemente in Beziehung setzt zu den Voraussetzungen, aus denen sie hervorgegangen sind, und zu den Folgen, die sie gezeitigt haben, die Parameter an die Hand, um deren Neuerfindungen zu bewerten. Anders ausgedrückt: um die moderne Stadt reflektierter zu entwerfen.“ Diese Sätze verstehen wir als Aktualisierung des obengenannten Melanchthon-Zitats. Der Hinweis auf die daraus resultierenden „reflektierteren Entwurfsmöglichkeiten“ menschengerechter Städte ist dann das Äquivalent zu Melanchthons Bildung als zuverlässigeres Bollwerk. Bildungsbezogen formuliert: lernt sehen, verstehen und gemeinsam entscheiden. Im Gegensatz zu Melanchthons Zeiten, in denen grundsätzlich durchaus militärische Investitionen als sinnvoll erwogen werden konnten und vielerorts auch wurden, steht die Existenz unserer Städte Gott sei Dank nicht so sehr dadurch in Frage, dass es eine militärische Bedrohung durch unmittelbare Rivalen gäbe auf die es mit „Bollwerken“ zu antworten gilt. Unser Problem besteht eher darin, verlernt zu haben, dass und wie wir ergründen können, was eine „moderne, menschengerechte Stadt“ sein könnte und wie sie beschaffen sein muss. Wir haben kaum noch „intakte Bollwerke“ gegen die Überwältigung unserer städtischen Lebensräume durch eine umfassend wirkmächtig gewordene Ökonomie und ihre vermeintlichen Zwänge. Anders Vittorio Magnago Lampugnani. Er arbeitet seit vielen Jahren daran, den Menschen die Augen zu öffnen. Er führt die Bestandsaufnahme der Wirklichkeit der Stadt durch, blickt hinter die Fassaden, auf die Geschichte und ihre Details und bringt einem das „Sehen“ neu bei: „Die Weisheit der Städte“ besteht dann in einem Miteinander von Geschichte, Funktion, Technik, Ökonomie, Ideologie, Persönlichkeit, Charakter und nicht zuletzt ihrer Schönheit und ist in der Gestaltung ihrer Straßen und Plätze gewissermaßen wie in einer Schatztruhe für uns aufbewahrt. Ihre Weisheit muss aber entschlüsselt werden. Dann kann sie helfen, mit Sachverständnis und Klugheit in gemeinsamer Anstrengung menschengerechte Städte zu gestalten und gemeinsam in ihnen zu leben. Utopie oder reelle Chance? Bereits in der musikalischen Vesper, die der Bildungsrede vorangeht, wird diese Frage musikalisch und thematisch eine Rolle spielen. Nicht zufällig beschreibt die Offenbarung des Johannes die Neuschöpfung am Ende aller Zeiten im Bild einer Stadt, dem „Himmlischen Jerusalem“; und auch die Musik, die in der Vesper erklingen wird, Diminutionen des 17. Jahrhunderts, wurde in Analogie zur Architektur beschrieben: exzellent ausgebildete Sängerinnen gestalten über einer „musikalischen Basisarchitektur“ wunderbar dekorative und detailversessene Verzierungen mit höchster handwerklicher Virtuosität. Der Festakt klingt mit einem Empfang im historischen Innenhof neben der Kirche aus.

Text: Konrad Birkmann
Bilder: privat

Die gesamte Citykirche 63 hier
herunterladen