Lesetipp
Text von Christa Spilling-Nöker (gekürzte Fassung)
Das Wunder der hellen Nächte

Es war still geworden in Bethlehem. Die Engel hatten sich nach langen Jubelchören leise zurückgezogen, um das neugeborene Kind schlafen zu lassen. Die Hirten waren, noch ganz erregt von den himmlischen Ereignissen, zu ihren Herden zurückgekehrt, um überall von dem Wunder zu erzählen, das sie erleuchtet und tief berührt hatte. Aufgeregt unterhielten sie sich über das Erlebte. Nur einer unter ihnen war ganz still unterwegs und verlor kein Wort. Wie betäubt war er von dem Jubel der Engel und dem hellen Schein, der das Kind umgab, und in seinem Herzen einen Glanz hinterlassen hatte. Tränen rannen über sein Gesicht und lösten Mauern in seiner Seele auf, die er im Laufe der Jahre in der Einsamkeit seines Hirtenlebens aus Kummer und Enttäuschung aufgebaut hatte, zum Schutz für sich selbst. Nun wollte er das Wunder für sich bewahren, es in seinem Herzen verschließen. In seiner armseligen Hütte angekommen, warf er sich auf sein Lager und träumte den wundersamen Abend noch tausendmal nach.

Plötzlich richtete er sich auf: „Wozu liege ich hier herum?“, fragte er sich, raffte alle seine Habseligkeiten zusammen und verstaute sie in einem großen Sack. „Alles will ich bringen, alles geben und schenken, um das Wunder noch einmal zu erleben, allein für mich, jetzt, da die anderen fort sind.“ So machte er sich, todmüde zwar, aber glücklich über seinen Beschluss, erneut auf zum Stall. Der Stern leuchtete so hell, dass er seinen Weg nicht verfehlen konnte. Leise schob er sich in den Stall, der zum Raum des Wunders geworden war. Josef hatte sich auf das Stroh gekauert und war völlig übermüdet eingeschlafen. Und Maria, gezeichnet von den Anstrengungen der Geburt, aber doch mit einem glücklichen Lächeln auf dem erschöpften Gesicht, war auch eingenickt. Andächtig sank der Hirte vor dem Kind, das vom himmlischen Leuchten umgeben war, auf die Knie.

„Ich habe alles, aber auch alles, was ich habe, gebracht, alles will ich dir schenken“, stammelte er und schüttete voller Liebe seine Gaben vor dem Kind aus. Er war selig, diesen Augenblick mit dem Kind allein zu haben. Es wurde schon Morgen, als er sich endlich aufraffte, den Stall zu verlassen und nach Hause zurückzukehren. Zu müde war er nach der durchwachten Nacht, um sich zu seiner Herde zu begeben und die alltägliche Mühsal wieder zu beginnen. „Zu kostbar ist das Wunder, als dass es sich mir durch das Geblöke der Schafe da draußen zerstören lassen will“, dachte er und verschlief den Tag in seiner Hütte. „Wenn ich das Wunder doch noch einmal erleben könnte“, träumte er vor sich hin, „was würde ich dafür geben!“ Wiederum schlich er sich des Nachts zu dem Kind, das Wunder in seine in langen Jahren so verwundete Seele aufzusaugen – und so wiederholte es sich Nacht um Nacht. Anstatt in seinen Alltag zurückzukehren und andere teilhaben zu lassen an dem, was sein Herz so wundersam schmerzhaft berührt hatte, vernachlässigte er seine Arbeit, gab auf, was ihm anvertraut war.

Wieder einmal war es so weit: doch heute war es dunkel und kalt. Es dauerte eine Weile, bis der Hirte begriff: Das Kind war fort, das Wunder verbraucht. Mit dem Glanz der Nacht war ihm genommen, was sein Leben erfüllt hatte; alles erschien ihm sinnlos und leer. Er wollte den Stall fluchtartig verlassen, als er stolperte. Er tastete auf dem Boden umher: Ein Fell fühlte er unter seinen Fingern, Decken und Gefäße. Er begriff: Sie hatten seine Geschenke zurückgelassen, sei es, weil die Flucht so schnell gehen musste, oder weil sie nichts damit anfangen konnten.

Schluchzend sank er unter einen Baum, hundeelend war ihm zumute. Hilflos und ratlos taumelte er weiter, bis er schließlich bei den anderen Hirten ankam. Verwundert sahen sie ihn an, denn er hatte sich seit der wundersamen Nacht nur dann und wann blicken lassen, um ein Lämmlein zu schlachten oder zu verkaufen.

„Du siehst müde aus“, sagte er zu einem älteren Hirten, „geh, leg dich schlafen, heute hüte ich deine Schafe.“ So bringe ich wenigstens den Rest der Nacht und den nächsten Tag herum, dachte der Hirte. Der Alte war nicht mehr ganz gesund und hatte es wirklich nötig, sich auszuruhen. Da sah ihn der Alte erstaunt an. Noch nie hatte dieser Jüngere seine Hilfe angeboten, war immer ein Einzelgänger gewesen. Er war aber doch dankbar für dessen unerwartete Hilfe. Und der Jüngere hingegen fühlte in der Tiefe seines verwundeten Herzens leise Spuren von Freude. Wie dankbar ihn der Alte angeschaut hatte.

Der konnte sicher auch die warme Decke gebrauchen, die im Stall liegengeblieben war. Irgendetwas wehrte sich in ihm, dieses kostbare Geschenk, das er mit so viel Liebe hergestellt hatte, herzugeben, aber dem Alten würde die Decke jetzt sicher guttun. Langsam überwand er seine inneren Widerstände, und so gab er nach und nach alles her, was er dem Kind gebracht hatte: Spielzeug, Gefäße, Felle. Er fragte dabei nicht mehr danach, was ihm das an Dankbarkeit einbringen könnte, sondern überlegte bei jedem Stück lange, wer es am Besten gebrauchen könnte, wo die Not lag, und wie er sie lindern könne.

Unmerklich ging bei all diesem Schenken ein inneres Leuchten von ihm aus, das auf die Beschenkten überging und sie so auch von innen her bereicherte. Als der Sack sich leerte und er am Ende mit seinen Habseligkeiten war, spürte er im Inneren eine ähnlich tiefe Freude wie in jener Heiligen Nacht, als ihn das Wunder berührt hatte. Er begriff, dass sein Wunder der hellen Nächte nicht entschwunden war, sondern sich in ihm, wenn auch unter großen Schmerzen, verwandelte und sich durch ihn und in ihm lebendig erhielt.

Text: Christa Spilling-Nöker
Artikelfoto: iStockphoto

BUCHTIPP

Wie es bei den Weihnachtsengeln zugeht? Überraschend unkonventionell. Die Engel in diesem Buch von Christa Spilling-Nöker sind keck, auch mal aufmüpfig oder ungeschickt – dabei aber oft auch nachdenklich und verträumt – und sie wecken die Vorfreude auf das Fest. Alle Geschichten gibt es auf den zugehörigen CDs zu hören, eingelesen von der Autorin, umrahmt von der stimmungsvollen Musik aus dem Weihnachtsoratorium „Jedem leuchtet ein Stern“ von dem bekannten zeitgenössischen Komponisten Johannes Wulff-Woesten.

Christa Spilling-Nöker

Vom Engel, der die Weihnachtsfreude suchte
12 Engelgeschichten mit 2 CDs, Laufzeit ca. 114 Minuten

St. Benno Verlag, Leipzig 2019

(ISBN 978-3-7462-5497-5)