Weihnachten
Die Geschichte vom Trödelengel
Die Geschichte vom Trödelengel

Schon mal aufgefallen? Das Wort „Engel“ hat hinten die Buchstaben E und L. Und viele Engelsnamen enden auch auf E und L: Michael, Gabriel oder Raphael.

„EL“ – das bedeutet, dass die Engel in Gottes Auftrag unterwegs sind.

Michael, Gabriel und Raphael sind bestimmt die berühmtesten und wichtigsten Engel. Es gibt aber ganz viele von ihnen – und alle ihre Namen enden hinten auf E und L. 

Heute will ich Ihnen von einem Engel erzählen, der sich immer verspätet hat.

Egal, was ausgemacht war, immer kam er mindestens eine halbe Stunde zu spät.

Wie sein Name wirklich lautete, weiß keiner mehr, denn irgendwann nannten ihn alle anderen Engel nur noch Tröd-el.

Wenn die Oberengel sagten: Gleich geht’s los, dann musste Tröd-el erst noch aufs stille Örtchen oder sich die Schnürsenkel binden (und das konnte er nicht so gut, sodass er mehrere Versuche brauchte und das meistens ewig dauerte).

Die Oberengel verzweifelten langsam an Tröd-el – aber es hatte keinen Zweck, sich aufzuregen.

Und so lernten sie, damit umzugehen: Sie bestellten ihn einfach immer eine halbe Stunde eher, als er sich mit ihnen treffen sollte. Wenn sie ihn um acht Uhr brauchten, sagten sie: „Tröd-el, du musst um halb acht da sein!“ Und so war Tröd-el dann halbwegs pünktlich.

Das alles half freilich nichts, wenn es einmal schnell gehen musste. Zum Beispiel, wenn ein Kind zur Welt kommt. Da kann man gar nicht so groß im Voraus planen.

Eines Tages kam nämlich aus den himmlischen Lautsprechern eine Durchsage:

„Halleluja, alle zusammen! Alle Engel unbedingt sofort zur Flugschanze. Der Sohn von Gott kommt zur Welt. Abflug in zehn Minuten. Ziel: Feld bei Bethlehem, wo die Hirten sich aufhalten.“

Alle Engel, große und kleine, wuselten durcheinander, holten ihre Flügel, polierten schnell noch mal ihre Heiligenscheine, packten ihr Navi ein und zogen ihr sauberstes und strahlendstes Gewand an. Das war ein ganz schöner Lärm, denn alle sprachen aufgeregt durcheinander und einige übten nochmal das „Halleluja“- und „Gloria“- Singen. Der Sohn vom Chef kommt ja nur einmal zur Welt.

Auch Tröd-el machte sich in diesem Trubel auf den Weg. Aber auf dem Weg zur Flugschanze merkte er, dass auf seinem Engelsgewand direkt auf der Brust ein dicker dunkelroter Fleck war. Hätte er doch heute mittag nicht sein Lieblingsessen gegessen, Spaghetti mit Tomatensoße! Wenn Gabriel ihn mit diesem vollgekleckerten Gewand sehen würde, gäbe es bestimmt Ärger!

Während also die gesamten himmlischen Heerscharen mehr oder weniger würdevoll zur Schanze rannten, ging Tröd-el zurück in sein Zimmer und wechselte sein Gewand.

Ehrlich gesagt brauchte das dann doch wieder etwas länger, weil ihm sein Lieblingsbuch in die Hände fiel und er darin kurz lesen musste. Aber schließlich steckte er sein himmlisches Navi ein und machte sich auf den Weg zur Flugschanze.

Dort war es jetzt leise und sie war natürlich schon völlig leer, alle anderen Engel waren schon längst losgeflogen.

Tröd-el gab in sein Navi „Hirtenfeld bei Bethlehem“ ein, und als die Route angezeigt wurde, flog er los. Diesmal trödelte er auch kaum, ehrlich.

Aber als er am Feld der Hirten ankam, war da kein einziger seiner Engelskollegen mehr da.

Tröd-el stiegen fast schon die Tränen in die Augen, weil er anscheinend ganz schön was verpasst hatte. Da sah er einen uralten Hirten mit einem kleinen Hund auf einem kleinen Felsen sitzen.

Tröd-el wischte sich die Augen, schaltete seinen Heiligenschein an und sagte: „Fürchte dich nicht!“ (Das müssen Engel immer als Erstes sagen, wenn sie einem Menschen begegnen, Engel sind ja meistens ganz schön beeindruckende Gestalten, leuchtend und groß – da kann man es schon mit der Angst zu tun bekommen. Tröd-el hätte es aber nicht zu sagen brauchen.)

„Was bist denn du für einer?“, sprach ihn der alte Mann ziemlich unbeeindruckt an.

„Ich bin ein Engel. Hier, meine Flügel plus Heiligenschein!

Aber sag mal: Waren grad schon andere Engel hier?“, fragte Tröd-el.

„Ja, schon!“, antwortete der Alte. „Aber nicht grad. Eher vor zwei Stunden! Und die Engel haben gesagt: ‚Euch ist heute der Heiland geboren, er liegt in Bethlehem in seiner Krippe. Das müsst ihr euch anschauen.` Da sind meine Hirtenkollegen mit ihren Schafen losgezogen.“

„Und warum bist du nicht mit?“, erkundigte sich Tröd-el.

Der alte Hirte seufzte: „Ich fühlte mich zu schwach für diese weite Reise. Die jungen Hirten boten mir zwar an, mich irgendwie zu tragen, aber das wäre zu weit für mich, der Weg geht ja durch Täler und über Hügel, das wollte ich ihnen und mir nicht zumuten. Ich hätte den Heiland ja auch gern gesehen, aber es ging halt nicht.“ Der alte Hirte schaute traurig.

Tröd-el überlegte. Dann sagte er: „Weißt du was? Ich nehm dich mit! Ich muss da eh hin! Die Fluglinie ist viel kürzer als der Landweg, und du wiegst ja sicher nicht viel. Und außerdem ist es ja meine Aufgabe als Engel, Menschen zu helfen.“

Der Alte lachte auf: „Aber meinen Hund müssen wir auch mitnehmen!“

Und so stiegen der alte Hirte und sein Hund auf den Rücken von Tröd-el. Der gab in sein Navi „Stall in Bethlehem“ ein und dann flog er langsam los. Der Alte jauchzte vor Vergnügen, als sie vom Feld abhoben.

Zwischendurch packte der Alte seinen Hirtenkäse und Brot aus und teilte das alles mit Tröd-el und dem Hund. So erfanden sie gewissermaßen die Bordverpflegung. Und weil Tröd-el sich dabei natürlich etwas einsaute, mussten sie an einem Fluss Pause machen, wo Tröd-el die Flecken auswusch. So kamen sie wieder etwas verspätet am Stall von Bethlehem an.

„Sie haben ihr Ziel erreicht!“, informierte das Navi von Tröd-el.

Der Stall war eine windschiefe Holzbude.

Ein sanfter Lichtschein schien unter der geschlossenen Tür heraus. Vor dem Stall lagerten mehrere Kamele und ein Elefant. Drei bunt und eindrucksvoll gekleidete Herren schliefen auf Decken bei diesen Tieren.

Auch ruhten einige Hirten mit ihren Schafen in der Nähe des Stalles.

Der alte Hirte lauschte an der Stalltür.

„Ich höre ein leises Schnarchen. Alles schläft!“, sagte der alte Hirte. „Aber ich geh jetzt trotzdem rein.“

Er nahm seinen Hund auf den Arm, öffnete ganz vorsichtig die Stalltür und trat ein.

Auf einmal leuchtete das Navi von Tröd-el auf und ein lautes „Pling“ erklang. Hektisch stellte Tröd-el es auf stumm, um niemanden aufzuwecken. Eine Botschaft vom Chef war angekommen:

„Es gibt einen Grund, warum Du grad am Stall bist. Die anderen Engel sind schon fort, deswegen musst du das jetzt übernehmen. Du musst den Josef warnen, dass der König Herodes dem Jesuskind Böses will. Sie sollen deswegen nach Ägypten flüchten. LGG.“ (Das war Gottes Verabschiedung unter allen Kurznachrichten: Liebe Grüße, Gott.)

Tröd-el schaltete sein Navi aus und ganz langsam betrat auch er den Stall.

Da saßen sie und schliefen bei Kerzenlicht, das aus einer kleinen Laterne an einem der Pfosten schien: Maria und Josef, dazu schnarchten ein Ochse und ein Esel in Ecken des Stalls.

Nur das Jesuskind lag wach in seiner Krippe und lachte den alten Hirten an. Der stand an der Krippe und Tränen der Freude liefen ihm übers Gesicht. „Der Herrscher der Welt für uns kleine Leut …“, murmelte er.

Tröd-el schlich zu Josef und flüsterte ihm ins Ohr: „Fürchte dich nicht. Du musst mit deiner Familie nach Ägypten flüchten, sonst wird was Schlimmes passieren.“ Josefs Augen bewegten sich hinter den Augenlidern, Tröd-el war sich ziemlich sicher, dass die Botschaft angekommen war.

Der alte Hirte und Tröd-el winkten dem Jesuskind zu, das langsam auch einschlief, und dann schlichen wieder aus dem Stall.

„Hat meine Trödelei also sogar was gebracht!“, freute sich Tröd-el.

Der Alte grinste ihn an: „So ist das! Gott hat mit jedem was vor – und jeder kann mit seinen Eigenheiten und Talenten für andere zum Engel werden. So auch du – ohne deine Trödelei hättest du mir nicht helfen können und auch dem Josef nicht diese Botschaft Gottes mitteilen können!“

Die beiden verabschiedeten sich, der Alte wollte noch Freunde in Bethlehem besuchen, wenn er schon mal da war, und Tröd-el wollte nicht zu spät zur großen Geburtstagsparty für Jesus im Himmel kommen, die sicher gerade stieg. Beziehungsweise nicht viel zu spät.

Er schaltete seinen Heiligenschein auf Fernlicht und flog langsam Richtung Himmel davon. Und als er dort ankam, wurde Tröd-el von seinen Kollegen zum ersten Mal für sein Zuspätkommen gelobt und gefeiert.

Die Party war im Himmel immer noch in vollem Gange, als einige Stunden später im Stall von Bethlehem die Heilige Familie langsam wieder erwachte und Josef seiner Familie mitteilte: „Mir ist im Traum ein Engel erschienen! Wir müssen los!“

Text: Hannes Schott
Illustrationen: Matthias Ose