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„Jesus ist für die Kirche der Dreh- und Angelpunkt“
„Jesus ist für die Kirche der Dreh- und Angelpunkt“

Heilsbringer, Lichtgestalt, wahrer Mensch und wahrer Gott, Retter und Erlöser, Prophet, „König der Juden“ und Sohn Gottes: So und mit noch vielen weiteren Bezeichnungen und Titeln wird Jesus von Nazareth seit 2.000 Jahren gesehen, beschrieben und bewundert – und von allen, die sich auf ihn beziehen und ihm folgen wollen, als „Christos“, als Gesalbter und Messias verehrt. Als moralisches Vorbild fasziniert er allemal auch Menschen, die sich nicht als Jünger („wer in mir bleibt und ich in ihm“) begreifen.

An Weihnachten feiern die Christen seine Geburt – oder vielmehr, dass und wie sich Gott in diesem Menschen offenbart. Eine herausgehobene Stellung genießt er, was viele nicht wissen, auch im Islam, jedenfalls nach der Überlieferung des Koran. Die Redaktion der Citykirche lud die katholische Theologin und Pastoralreferentin Monika Tremel und Ali-Nihat Koc von der muslimischen Begegnungsstube Medina zu einem vorweihnachtlichen Gespräch. 

Jesus als Kind in der Krippe, die Hirten und die Weisen aus dem  Morgenland – da dürfte sich die Christenheit in Verehrung und Verkündigung über alle Konfessionsgrenzen hinweg einig sein. Auch manche muslimische Familien stellen einen Weihnachtsbaum auf …

Ali-Nihat Koc: Aber das hat keinen religiösen Hintergrund und zeigt eher, dass sie Anteil an der Kultur nehmen. Im Kindergarten und der Schule erleben das ja auch die Kinder mit. Aber klar ist: Jesus und übrigens auch Maria genießen im Islam höchste Wertschätzung. Der Mutter Jesu ist sogar ein ganzes Kapitel im Koran gewidmet; da wird berichtet, wie ihr durch den Erzengel Gabriel der Geist Jesu eingehaucht wird. An Maria und Jesus zeigt sich damit – genauso wie an Adam und Eva, die ohne Vater und Mutter erschaffen wurden – die Allmacht Gottes.

Nur die Idee, dass sich in Jesus Gott selbst in menschlicher Gestalt zeigt, also in Fleisch und Blut offenbart, ist dem Islam fremd.

Koc: Muslime bezeugen einfach den einen Gott Allah – das bedeutet so viel wie „einziger Schöpfer“. Die prägenden Gestalten der jüdischen Tradition und eben auch Jesus sehen wir Muslime als Gesandte, Mohammed war der letzte von ihnen. Alle Propheten sind „gottergeben“, nichts anderes bedeutet auch das Wort „Muslim“.

Monika Tremel: Dass Gott Mensch wird, war auch der antiken Welt fremd. Aber genau das ist der revolutionäre Kern des Christentums, dass das Große und das Kleine gleichen Wert besitzen. Das feiern Christen an Weihnachten. Was bis heute fasziniert, ist ja, dass und wie dieser Jesus glaubwürdig gelebt und was er vertreten. So bleibt die 2.000 Jahre alte Lehre immer modern: Armut, Gerechtigkeit, Frieden, Liebe – das spielt alles zusammen.

Jesus als Mensch, als historische Figur und vor allem die armselige Geburt in einem Stall auf der einen Seite und die prachtvollen Kirchen auf der anderen – das sehen viele Menschen als befremdlichen Kontrast. Können Sie das nachvollziehen?

Tremel: Da gibt es ganz klar eine Spannung – das empfinden Menschen heute und das haben Menschen auch in früheren Epochen schon so empfunden, ich denke nur an Franz von Assisi. Das war immer auch Anstoß für neue Bewegungen und Reformen. Aber der historische Jesus war und ist doch der Dreh- und Angelpunkt von allem, und das in allen Konfessionen. Das muss die Kirche ernst nehmen, zum Ausdruck bringen und sich daran messen lassen. Leider ist nicht zu bestreiten, dass sie (und nicht allein die katholische Kirche) dem in ihrer Geschichte nicht immer gerecht geworden ist. 

Sie spielen auf Kreuzzüge, Glaubenskriege und Inquisition an …

Tremel: … und zum Beispiel auf Antisemitismus oder Missbrauch. All das widerspricht grundsätzlich dem, wofür Jesus Christus steht und was uns in der Nachfolge von Jesus aufgetragen und geschenkt ist. Und mit diesem Menschenrechtsverbrechen des sexuellen Missbrauchs steht alles auf dem Prüfstand – die Kirche als Institution und auch ihr Glaube. Wie damit umgehen? Das sind Fragen, die mich als Seelsorgerin und gläubige Frau beschäftigen. Klar ist für mich auch: das hat nichts mehr mit dem Glauben an den menschgewordenen Gott zu tun. Wie Jesus muss die Kirche auch als Institution auf der Seite der Schwachen und Armen stehen und für Menschenrechte und Gerechtigkeit eintreten – sonst ist sie nicht Kirche Jesu Christi.

Es mag ein Zerrbild sein, aber gerade aus protestantischer Sicht erscheint die katholische Kirche oft so, als genüge sie sich selbst – ganz unabhängig von Jesus.

Tremel: Ich finde, das ist eine realistische Betrachtung. Institutionen sind ja allgemein in der Krise. Je mehr man zu verlieren hat – und die katholische Kirche hat viel zu verlieren – desto größer ist die Versuchung, sich auf sich selbst zu konzentrieren und um sich selbst zu kreisen. Zu meinen, das sei der Weg aus der Krise, ist meiner Meinung nach eine Selbsttäuschung. Aber man soll das Kind nicht mit dem Bade ausschütten: Institutionen haben  eine wichtige Funktion, auch die Kirchen. 

Für mich als katholische Christin ist in diesem Zusammenhang das Zweite Vatikanische Konzil vor 60 Jahren von herausragender Bedeutung, ich sehe es sogar als eine Art kopernikanische Wende. Da steht Jesus im Mittelpunkt: „Wer diesem vollkommenen Menschen folgt, heißt es in der damals verabschiedeten, sogenannten Pastoralkonstitution, der wird selbst mehr Mensch.“ 

Sehen Sie Unterschiede zwischen der katholischen und der protestantischen Sicht oder der Rolle, die Jesus in Theologie und Kirchen spielt?

Tremel: Nein, jedenfalls keine wesentlichen. Gewiss gibt es viele Jesus-Bilder, aber die ganze Ökumene lebt ja davon, dass Jesus im Mittelpunkt steht, sich alles an ihm und auf ihn hin ausrichtet.

Dennoch scheint, zum Beispiel in barocken Wallfahrtskirchen, Maria oft alles zu überstrahlen. Gerät Jesus da nicht manchmal in den Schatten seiner Mutter? 

Tremel: Die Marienfrömmigkeit mag ein Merkmal katholischer Tradition sein, aber Maria – und natürlich auch Josef – wären ohne Jesus ja vollkommen bedeutungslos. Und umgekehrt gilt dies übrigens auch. Als trennend empfinde ich eher eine klerikalistische Auffassung von Kirche. Manche in der Amtskirche haben immer noch die Vorstellung, sie sei so gut wie unfehlbar. Aber der historische Jesus stellt ja gerade die Macht und den Institutionalismus in Frage.

Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil wurde in der katholischen Kirche der Katechismus höher gehalten als die Bibel, zumindest in der Praxis. Und selbst lesen sollten und mussten die Gläubigen die Heilige Schrift gar nicht … 

Tremel: Das hat sich zum Glück fundamental geändert. Auch das verdanken wir dem Konzil: Wie keines zuvor, hat es sich an der Bibel orientiert. 

Und welche Rolle spielt die biblische Überlieferung im Islam?

Koc: Sie wird natürlich geachtet. Wie schon erwähnt, bringen gläubige Muslime Jesus besondere Liebe und Wertschätzung entgegen. Auch in den Moscheen werden in den Predigten Geschichten von ihm erzählt. Zum Beispiel die, in der sich seine Jünger angesichts eines Hundekadavers die Nase zuhalten. Jesus aber lächelt und meint: Habt Ihr nicht seine schönen Zähne gesehen? Da geht es um die innerliche Reinheit, die positive Einstellung, das gute Herz. 

Wird das in fundamentalistischen Kreisen nicht als feindlich ausgeblendet?

Koc: Nein, wer Jesus leugnet, ist kein Muslim. Die großen Streitpunkte liegen dann woanders, zum Beispiel beim Verständnis von Sünde und dem Umgang mit Andersgläubigen.

Aber wenn Jesus in Ehren gehalten wird, müssten doch auch Christen entsprechend geachtet werden?

Koc: So ist es ja auch. Allen, die Anhänger der Schriftreligionen sind, gilt größter Respekt. Sie gelten als Schwestern und Brüder. Wer einen von ihnen schlecht behandelt, wird im Jenseits angeklagt, heißt es in der Überlieferung von Aussprüchen des Propheten Mohammed (Hadith). Im Osmanischen Reich war das über Jahrhunderte hinweg gelebte Praxis, sonst hätte es dort ja bald keine Juden und Christen mehr gegeben. In Istanbul gibt es im Stadtteil Üsküdar/Kuzguncuk eine Kirche, die einst ein Sultan direkt neben einer Moschee errichten ließ – und eine Synagoge liegt ebenfalls in unmittelbarer Nachbarschaft. 

Andersgläubige zu achten und Vielfalt zu akzeptieren, war im christlichen Abendland lange nicht selbstverständlich. Darum ist hart gerungen worden. Heute dagegen werden Christen und Kirchen in Teilen der islamischen Welt verfolgt und verboten. Wo bleibt da die Toleranz? 

Koc: Verschiedene Länder, die sich ausdrücklich als islamisch bezeichnen und auf bestimmte Traditionen berufen, sind es allenfalls teilweise. Es ist traurig und ärgert mich auch, wenn dort urislamisches Gedankengut missachtet wird. Unterdrückung widerspricht dem Islam.

Dass Jesus Jude war, haben die Christen lange bewusst verdrängt und jedenfalls so getan, als gehörte er gar nicht mehr so richtig zum Judentum. Wie ist das heute?

Tremel: Gott sei Dank ist das viel stärker im Blick – auch dank der beharrlichen Einsätze für christlich-jüdische Begegnungen. Natürlich hat das vor dem Hintergrund des unsäglichen Leids der Judenverfolgung und der Schoah noch eine andere Dimension bekommen. Ich denke: Wir sind auf das Judentum und den Austausch geradezu existenziell angewiesen. Die jüdische Religion gehört zu unseren Wurzeln und ist unverzichtbar, um uns selbst zu verstehen. Und für alle abrahamitischen Religionen gilt doch, dass Gottes- und Menschenliebe untrennbar sind.

Text: Wolfgang Heilig-Achneck
Interview: Wolfgang Heilig-Achneck, Brigitte Wellhöfer
Artikelfotos: Madame Privé

Monika Tremel

Monika Tremel, Jahrgang 1967, hat in Bamberg und Würzburg katholische Theologie studiert und sich in einer Doktorarbeit mit Politik und Theologie bei Dorothee Sölle beschäftigt. Als  Pastoralreferentin war sie zunächst bei der Katholischen Hochschulgemeinde Nürnberg tätig, dann in Erlangen. Seit zwei Jahren leitet sie – in einer Doppelspitze – das Seelsorge- und Beratungszentrum Offene Tür Erlangen.

Ali-Nihat Koc 

Ali-Nihat Koc ist Mitgründer und Sprecher der muslimischen Begegnungsstube Medina in Nürnberg. Die 1995 gegründete Einrichtung versteht sich als multiethnischer und multireligiöser Ort des Austauschs und will vor allem zum gesellschaftlichen Miteinander und friedlichen Zusammenleben beitragen. Zum Programm gehören unter anderem Angebote für Schulklassen.