Weihnachten
Familientradition

Ihr kleiner Josef habe schon immer seinen eigenen Kopf gehabt, erzählte seine Mutter Salome am Brunnen den anderen Frauen in Bethlehem. Das hatte damit begonnen, dass er sich von seiner Mutter irgendwann nicht mehr mit seinem Kosenamen aus der Kindheit, Jussi, rufen lassen wollte. Er verkündete, dass er ab jetzt ein ganzer, wenn auch noch recht kleiner, Josef wäre – wie sein Vater. Da war er acht. Als er neun war, kam der Rabbi aufgeregt zu Josefs Eltern, sprich dem großen Josef und Salome. Den kleinen Josef hatte er am Ohr hinter sich hergezogen. Der Rabbi, ein sehr alter Mann mit langem Bart, erzählte ihnen, dass der kleine Josef im Synagogenunterricht gefragt hätte, wer denn eigentlich die Eltern von Gott seien. Der Rabbi wollte ihm deswegen den Mund verbieten. Da hätte der kleine Josef unter dem Jubel der ganzen Klasse weitergeredet, das sei doch total wichtig zu wissen – weil man sich doch so viel von seinen Eltern abschaut.

Solche Fragen würden gegen die Tradition verstoßen und die Menschen verunsichern, beklagte sich der Rabbi. Daher schloss er den kleinen Josef eine Zeit lang vom Synagogenunterricht aus. Der große Josef und Salome liebten ihren kleinen Josef. Auch der große Josef hatte irgendwann seine ursprünglichen Vornamen abgelegt und sich nach seinem Lieblingshelden aus der Schrift benannt. Stolz erzählte er seinen Gästen, dass der kleine Josef irgendwann ihr Bethlehemer Traditionsgasthaus „Zum Stern“ weiterführen würde. Beim großen Josef zählte Tradition viel. Er konnte seinen Stammbaum bis zum berühmten König David zurückverfolgen. Daher kam es auch zum Bruch zwischen ihnen, als der kleine Josef, der inzwischen zum jungen Josef herangewachsen war, eines Tages verkündete, er werde Zimmermann. Er verfügte tatsächlich über großes handwerkliches Geschick. Das hatte er von seinem Vater geerbt, der alle Handwerksarbeiten im Gasthaus selbst erledigte. Aber der große Josef hatte sich damals natürlich der Familientradition gebeugt.

Es gab viel Geschrei und Anschuldigungen, die beide hinterher bereuten und wegen ihres großen Stolzes (den hatte der junge Josef ebenso wie den eigenen Kopf vom großen Josef geerbt) nicht mehr zurücknahmen. Auch Salome gelang es nicht, die beiden zu versöhnen, und so stand sie eines Tages mit Tränen in den Augen am Straßenrand und winkte ihrem jungen Josef zu, der mit seinem wenigen Hab und Gut auf einem Karren nach Nazareth fuhr, um dort eine Lehrstelle in einem Betrieb anzunehmen. Der große Josef hatte sich an diesem Tag nicht blicken lassen. Sie stellte am Abend fest, dass er angefangen hatte, einen neuen Stall hinter ihrem Gasthaus zu bauen.

Ab jetzt war es so: Immer, wenn Familien mit Kindern in ihr Gasthaus kamen, bediente Salome diese, und der große Josef zog sich in seinen Stall zurück und werkelte dort herum. Salome hielt den Kontakt mit dem jungen Josef über die Jahre. Sie schickten sich Briefe zu hohen jüdischen Feiertagen, in denen er ihr stolz von seinem Erfolg als Zimmermann berichtete. Zu seiner Meisterfeier hatte sie ihn sogar besucht. Der junge Josef fragte sogar zum ersten Mal seit Jahren nach seinem Vater. Salome bildete sich den kurzen Anflug von Schmerz in seinem Gesicht nicht nur ein, als sie berichtete, dass der große Josef inzwischen ein alter Josef sei und vieles nicht mehr so ginge wie früher. Bei der Meisterfeier war auch eine junge Frau namens Maria anwesend. In ihrer Anwesenheit sprach Salome an, dass der junge Josef bald heiraten solle. Er sei ja fast schon zwanzig und sie würde gern Großmutter werden. Da zeigte der junge Josef wieder seinen eigenen Kopf und platzte heraus, er wolle sich nicht von irgendwelchen gesellschaftlichen Vorgaben einengen lassen. Salome kam es vor, als wäre nicht nur sie durch diesen Ausbruch vor den Kopf gestoßen, sondern auch Maria.

Wieder daheim in Bethlehem angekommen, wollte der alte Josef nichts von ihren Erlebnissen in Nazareth wissen. Ein weiterer Brief des jungen Josefs sorgte dann auch für ein Zerwürfnis zwischen ihnen. Er schrieb, dass Maria schwanger sei und behaupte, das Kind sei vom Heiligen Geist. Der junge Josef stünde aber zu ihr. Da riet Salome ihrem Sohn per Brief, diese anscheinend untreue und dazu auch noch gotteslästerliche und verrückte Frau zu verlassen. Dem alten Josef erzählte sie nichts davon. Ein Antwortbrief traf nicht ein und ein weiterer, versöhnlicherer Brief Salomes kam ungeöffnet mit dem Hinweis „Empfänger auf unbestimmte Zeit verreist“ zurück. Salome glaubte, ihren Sohn nie mehr zu sehen und lenkte sich damit ab, dass wegen der Volkszählung des Kaisers Augustus im Gasthaus „Zum Stern“ Hochkonjunktur herrschte. Der alte Josef merkte, dass seine Frau seit einiger Zeit verschlossener und trauriger war, als sonst. Er versuchte, sie darauf anzusprechen. Weil sie aber nur abwehrte, widmete auch er sich voll und ganz seinen Gästen. Nur wenn Familien mit Kindern kamen, schoss ihm ein Stich ins Herz. Er dachte dann an seinen verlorenen Sohn und daran, wie sehr er ihn vermisste. Der alte Josef schaffte es nur, diese Gedanken zu verdrängen, indem er sich in den Stall hinter dem Haus zurückzog. Ihm war es vielleicht nicht bewusst, aber die handwerkliche Arbeit dort verband ihn mit seinem weit entfernten Sohn. Salome holte ihn an solchen Tagen immer zum Essen und staunte über diesen Stall. Der war inzwischen ein kleines Wohnhaus mit wunderschönen Schnitzereien zu biblischen Geschichten über Väter, Mütter und ihre Kinder: Abraham, Sara, Isaak, Rebekka, Esau, Jakob, Rahel, Josef und viele andere … Nachts, wenn der alte Josef schlief und Salome wegen vieler Gedanken keine Ruhe fand, ging sie in den Stall. Sie hing selbst genähte Vorhänge an die Fenster und rollte einen in wachen Nachtstunden selbst geknüpften Teppich aus.

Die Gäste oder gar das Vieh bekamen dieses Schmuckstück nie zu Gesicht – und Salome und der alte Josef sprachen nie darüber. Wegen der Volkszählung kamen immer mehr Gäste nach Bethlehem, und der Traditionsgasthof „Zum Stern“ war bald ausgebucht. Einmal fragte Salome, ob sie nicht ausnahmsweise im Stall Gäste unterbringen könnten. Der alte Josef reagierte so unwirsch und schroff, dass sie diese Frage nicht mehr stellte. Bis zu dieser Nacht. Es klopfte. Salome und der alte Josef räumten noch die Wirtsstube auf. Sie gingen beide ans Fenster. Wegen der Volkszählung waren nächtliche Besucher keine Seltenheit. Sie bedauerten beide, diese abweisen zu müssen. Aber das Wetter war mild, man konnte auch auf den Feldern schlafen. Der alte Josef öffnete das Fenster und Salome schaute mit hinaus. Auf der Straße stand ihr Sohn mit seiner hochschwangeren Frau auf einem Esel. Sohn und Eltern sahen sich schweigend an. Der alte Josef schloss das Fenster. Er eilte zur Tür. Salome hinterher. Der alte Josef riss die Eingangstür auf und schloss seinen Sohn in die Arme. Der drückte seinen alt gewordenen Vater fest. Salome half Maria vom Esel herunter. Maria küsste sie herzlich auf die Wangen. Wenn sie etwas von dem Brief wusste, den Salome so bereute, so sagte sie nichts.

Wortlos führte der alte Josef seine Familie in den Stall. In der Mitte des Stalls stand etwas, woran er in den letzten Tagen gearbeitet hatte, eine Krippe aus Holz. Wie alles andere im Stall war auch sie reich verziert. Jetzt lagen noch Deckchen und Kisschen darauf. Salome hatte sie in der vergangenen Nacht zur Wiege umgestaltet. So kam es, dass das Enkelkind von Salome und dem alten Josef in einem Stall geboren und in eine Krippe gelegt wurde. Es kamen viele Besucher. Es wurde eine Heilige Nacht. Später sagte der junge Josef zum alten Josef: „Ich hoffe, Jesus schaut sich auch einmal etwas von seinen Großeltern ab!“

Da umarmte der Vater sein Kind, weil er sich so darüber freute. Auch wenn sich heute keiner mehr an den alten Josef und Salome erinnert, werden zum Geburtstag ihres Enkelkindes alte Verwandte besucht, Streitigkeiten beigelegt und schlichte Räume verziert und geschmückt.