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Herbstblues und Winterdepression
Herbstblues und Winterdepression

Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit beeinflussen uns. Wir können nicht das ganze Jahr „Geh aus mein Herz und suche Freud“ anstimmen. Wenn die Tage kürzer werden, die Dunkelheit überhandzunehmen scheint, richtet sich der Blick zurück und nach innen. Auch im Kirchenjahr ist der Herbst dem Erinnern und Gedenken gewidmet. Verschiedene Gedenktage, Allerseelen oder der Totensonntag geben der „herbstlichen“ Stimmung Zeit, Raum und Ort.

Ist ein solcher Herbstblues eine Depression? Nein. Wir haben nur in den letzten Jahren eine Medikalisierung und Pathologisierung mancher Gefühle, die in unserer Gesellschaft störend geworden sind, erleben können: Viel zu schnell wird heute als krank definiert, was eigentlich zu unserem Leben gehört. Selbst der schwungvoll extrovertierte Mensch kann Phasen der Introversion, der Wendung nach innen erleben, ja sogar nötig haben. Wir brauchen düstere Gefühle und die Stille der Nachdenklichkeit – auch die Trauer –, um später den Kontrast, nämlich Lebensfreude und positives Leben überhaupt wahrnehmen zu können.

Aber es gibt sie eben auch: die Herbst-Winter-Depression oder wie sie auf medizinisch heißt: die saisonbedingte oder saisonal abhängige depressive Störung. Was diese mit einem „Herbstblues“ teil, ist die Abhängigkeit vom jahreszeitlichen Rhythmus. Auch die Herbst-Winter-Depression tritt auf im Herbst und Winter, also in den „dunklen“ Jahreszeiten. Aber sie ist mehr als ein Stimmungstief bei Novemberwetter und anders als die Trauer im Gedenken an Vergangenes und Vergehendes. Menschen, die unter einer saisonal abhängigen Depression leiden, sind depressiv. Das heißt: Sie leiden unter der „Krankheit der -losigkeit“, wie es einmal ein bekannter Psychiater formuliert hat. Sie sind freudlos, hoffnungslos, mutlos, antriebslos, energielos oder – das beschreiben Betroffene als besonders quälend – gänzlich gefühllos und leer.

Die Unterschiede zu jeder anderen Depression: Wer unter einer Herbst-Winter-Depression leidet, klagt nicht über Appetitlosigkeit und Schlaflosigkeit, die sonst als typische Symptome einer Depression genannt werden. An deren Stelle treten ständige Müdigkeit („Winterschlaf“) und Heißhunger nach kohlenhy-
dratreichen Lebensmitteln, so als müsse man sich einen Winterspeck zulegen, um den von der Natur vorgesehenen Winterschlaf gut zu überstehen.

Ein weiterer Unterschied: Wenn die Tage wieder länger werden, verflüchtigen sich die Symptome von selbst, und im späten Frühling endlich ist der Spuk vorbei – um möglicherweise mit den kürzer werdenden Tagen im nächsten oder übernächsten Oktober oder November wiederzukommen.

Glücklicherweise leiden in unseren Breitengraden nur wenige Menschen an einer derart ausgeprägten Herbst-Winter-Depression. In unseren Breitengraden! Denn wie häufig und wie stark wir unter diesen Symptomen leiden können, ist tatsächlich abhängig von den Tagesstunden und dem (Sonnen)licht im Winter, das uns zur Verfügung steht. Und damit geht es uns in Nürnberg eindeutig besser als Menschen weiter nördlich auf unserem Globus.

Die Dunkelheit der Herbst- und Wintermonate und damit das Fehlen des Sonnenlichts schlagen aber bei vielen auch hier – Epidemiologen nennen heute für Deutschland die Zahl von 10 Prozent – auf die Stimmung, den Tatendrang, die Lust, ohne dass sich aus dieser Niedergeschlagenheit gleich eine Herbst-Winter-Depression entwickeln muss.

Was hilft? Wesentlich ist die Einsicht, dass die Zustände depressiver Herabgestimmtheit vorbeigehen. Depressive Menschen denken in einer Depression meist, dass ihr Leben nun auf immer so trüb und freudlos sein würde. Grundsätzlich gilt aber: Jede Depression geht vorbei! Und mit diesem Wissen fällt es viel leichter, Empfehlungen zur Lebensführung umzusetzen. Dazu gehören sowohl bei einem Herbstblues als auch bei einer saisonal bedingten Depression Regelmäßigkeit, körperliche Aktivität tagsüber an der frischen Luft und erholsamer Schlaf. Vor allem aber hilft Licht. Seit längerer Zeit schon gibt es die sogenannte Lichttherapie zur Behandlung der saisonal abhängigen Depression. Die „Belichtung“, die normalerweise durch natürliches Tageslicht geschieht, übernehmen spezielle Lichtgeräte. Mit ihnen lassen sich kurze Herbst– und Wintertage künstlich verlängern, was die Ausschüttung von Hormonen und Botenstoffen und deren regulierende Wirkung stimuliert.

Zu einer „gesunden“ Lebensführung gehört aber auch, der Frage nachzugehen, ob wir uns manchmal nicht zu viel zumuten: Stress, Erschöpfung und Depression stehen in einer innigen Wechselwirkung zueinander. Dabei ist es nicht nur die Arbeit, die „stressen“ kann. Auch die Freizeitgestaltung oder die Familie bergen die Stressrisiken. Und bald steht der oft beschriebene und viel beklagte „Weihnachtsstress“ vor der Tür. Vielleicht ist dann das herbstliche Stimmungstief auch die Einladung zu einer letztlich ganz willkommenen Pause.

Text: Dr. phil. Rose Riecke-Niklewski, Kinder-und Jugendlichenpsychotherapeutin und Prof. Dr. med. Dr. phil. Günter Niklewski, Psychiater und Psychotherapeut
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