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Herbstlese

1. Handlese

Früher hat man Hülsenfrüchte noch verlesen müssen, um zum Beispiel Steinchen auszusortieren. Und beim Wein ist die Lese mit der Hand bis heute immer noch der Goldstandard. Anstrengend, ja, aber die Lesemaschinen können nicht so gründlich und selektiv die Trauben vom Stock lesen, wie der Mensch das kann. Der Mensch, der einzelne Blätter gleich abschüttelt und faule oder vertrocknete Trauben unmittelbar entfernt. Darum setzen viele Winzer, wenn in der letzten Reifephase die täglichen Wetterbeobachtungen und Traubenkontrollen es ergeben, dass der Zeitpunkt zur Lese gekommen ist, immer noch lieber auf den Menschen, als auf die Maschine. Und wenn es gut läuft, kommen viele aus nah und fern, um zu helfen. Die Winzerei ist ein schwieriger Beruf, viel Erfahrung und Übung sind unabdingbar. Aber das Lesen der Trauben – wenn das Zucker-Säure-Verhältnis stimmt, wenn der Gehalt an Phenolen (rot) oder Aromastoffen (weiß) stimmt –, das Lesen an sich ist schnell gelernt. Mit scharfen, kräftigen Scheren geht es in den Hang und los. Das können alle. „Zwick, zwack, und am Abend ist es ganz stille in mir“ – das schreibt eine Managerin, die jedes Jahr ein paar Tage zur Handlese in den Weinberg kommt. Immer mehr Menschen mit Offenheit für Kontemplation oder Meditation zieht es im Herbst in die Weinberge. Immer öfter wird die Lese Teil einer geistlichen Auszeit. Seit Jahrtausenden wird hier bewusst ohne Akkord gearbeitet, muss man die Trauben beim Lesen ständig auf ihren Geschmack prüfen, wobei einem die besten Gedanken kommen, während man Weinstock für Weinstock von den Trauben befreit. Mit oder ohne geistliche Anleitung hat jede Lese eine meditative Qualität. So, wie das Verlesen der Hülsenfrüchte in der großen Schüssel oder viele andere Arbeiten mit der Hand, die monoton und leicht zu bewältigen sind.

2. Auslese

Jährlich werden weltweit 1.793.000 neue Bücher veröffentlicht. 4.900 pro Tag. Deutschland liegt mit knapp 100.000 Büchern pro Jahr auf Rang fünf. Da muss ich notgedrungen eine Auslese treffen, was ich denn nun lesen will. Was ich mag und verstehe. Der Ausgangssatz einer der prägnantesten biblischen Bekehrungsgeschichten überhaupt lautet: „Verstehst du auch, was du da liest?“ Philippus fragt das einen äthiopischen Beamten und dann geht es los. In der Geschichte (aus Apostelgeschichte 8) hat Gott seine Finger kräftig im Spiel. Aber warum sollte ich heutzutage überhaupt noch lesen? Glaubt man dem Wissen des Internets, gibt es dafür sehr gute Gründe: Lesen stärkt das Gehirn. Lesen schützt vor altersbedingtem, geistigem Verfall. Lesen lindert Stress. Wer liest, lebt länger. Lesen verbessert Gedächtnis und Konzentration, es fördert Empathie und Kreativität und stärkt die seelische Widerstandskraft. Braucht es noch mehr Gründe, selbst wenn man nicht zu denen gehören sollte, für die Lesen das Schönste überhaupt ist? Wenn ich an die Managerin im Weinberg denke, die nach ein paar Stunden des „Zwick und Zwack“ ganz still und entlastet wurde, dann sehe ich auch im Buchstaben-Lesen die Qualität des Uns–aus–der–Welt–Herausholens. Die herbstliche Verlangsamung, die wir in der Natur beobachten, ist in unserem Jahrhundert mehr und mehr zur Sehnsucht geworden. Ein Buch zu nehmen, zu sitzen, zu liegen, sich auf eine Sache zu konzentrieren … das streichelt meine Seele, weil es mich zum Regenten meines Lebens macht. Ich nehme die Zügel in die Hand und halte mit dem Buch das Stoppschild hoch und sage: Moment, ihr müsst warten, jetzt lese ich. Ihr Sorgen, Ansprüche, Wichtigkeiten: Ihr habt jetzt Pause. Gerade entfliehe ich mal kurz der Welt oder versuche, sie tiefer zu durchdringen. Ich verlangsame mein Leben aktiv. Und das zu tun, war noch nie so wichtig wie heute. Der katholische Erzbischof Karl Braun nennt seine zwei Vermächtnis-Aufsatzbände „Herbstlese“. Im Klappentext heißt es, er sei im Laufe seines Lebens ins Geheimnis des Glaubens hineingereift. Was für eine passende Formulierung! Und während es für die Reifung der Trauben die Sonne braucht, braucht es für unsere Reifung die Momente des Rückzugs und der Auslese. Zu lesen ist da ein unschlagbares Hilfsmittel.

3. Spätlese

Wenn man liest, kann man natürlich auch von der Lese lesen. Die vielleicht klassischste biblische Weinlesegeschichte ist ein großer Aufreger (Matthäus 20). Ein Frontalangriff auf unser Gerechtigkeitsempfinden. Da kriegen Leute, die im Weinberg geholfen haben – ich vermute bei der Lese – alle den gleichen Lohn. Die, die zwölf Stunden in der Sonne gearbeitet haben und die, die erst ganz zum Schluss, also nur die letzten ein, zwei Stündchen mit im Berg waren. Spätlese. Ein emotionales Drama. Schon die biblischen Erzählfiguren regten sich auf. Es geht um falsche Erwartungen und das menschliche Bedürfnis, sich abzugrenzen und sich das Leben selbst verdienen zu wollen. Faktisch ist es eine Geschichte der Güte Gottes und davon, dass seine Gerechtigkeit unsere bei Weitem an Großzügigkeit übertrifft. Das ist nicht leicht zu verdauen. Die, die hier die späte Lese vollziehen, werden großzügig belohnt. Im Jahr 2023 wären sie am nächsten Tag Opfer eines riesigen medialen Sturms der Entrüstung geworden. So funktioniert unsere Zeit. Wut regiert. Emotion ist alles. Da ist die Tatsache unerheblich, dass sie gar nichts dazu konnten, dass sie früher nichts davon gewusst hatten und auch nichts zur großzügigen Entlohnung beigetragen haben. Aber das ist heutzutage egal. „Hauptsache, ich habe Grund zur Wut“ scheint der Trend der Zeit. Ein Gott, der alle gleich liebt, der gleich großzügig alle entlohnt – so ein Gott passt nicht. Damals nicht und heute schon gar nicht. Aber die Geschichte wurde bewusst erzählt und aufgeschrieben, um uns nachdenklich zu machen. „Seid ihr zornig darüber, dass ich so gütig bin?“, fragt Gott uns da ganz direkt. Halten wir das aus, dass Gott unsere Einteilungen und Abgrenzungen nicht mitmacht? Vielleicht lesen wir die Geschichte noch einmal nach – in Ruhe, im Sessel und mit einem Glas Spätlese in der Hand.

4. Nachlese

Israel jubelt Gott als Schöpfer der Buchstaben zu und verehrt seine Schriftrollen als großen Schatz … Wie hängt das alles zusammen, was hier mit Wortspielen um die Lese und das Lesen herum nur angedeutet werden konnte? „Der Wein erfreut des Menschen Herz“ (Psalm 104,15). Es sagt viel über unseren Gott aus, dass er in der Bibel immer wieder als Winzer auftaucht. Dass er darauf aus zu sein scheint, dass unser Leben festlich ist, dass wir uns an seine Befreiung aus der Knechtschaft mit einem Glas Wein in der Hand erinnern sollen und dass er uns mit dem Sabbat auch einen Freiraum zum Lesen verordnet hat. Vielleicht ist es darum gar nicht so absurd zu behaupten, dass die jahrtausendealte Kunst des Weinbaus und die Erfindung eines Alphabetes auf der gleichen Stufe stehen. Und dass der, der Wasser in Wein verwandelt, uns bewusst für dieses Ineinander von Alltag und Fest, von Aktion und Kontemplation geschaffen hat. Jetzt ist es Herbst. Zauberhaft, melancholisch, bunt, nasskalt, bedrückend, erhebend. Wie auch immer Sie ihn erleben: Gestalten Sie ihn mit. Beobachten Sie die sich verlangsamende Natur und ahmen Sie das nach, ob mit einem Produkt der Weinlese oder mit gut gewählten bedruckten Seiten.

Text: Jan Martin Depner
Foto: Adobe Stock