Ich lade ein, öfter einmal anzuhalten. Beziehungsweise, um genauer zu sein: innezuhalten.
Und ich behaupte, dass die momentane Zeit im Kirchenjahr uns bei diesem Innehalten unterstützt.
Spirituelle Themen sind in den letzten Jahrzehnten stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerutscht. Innerhalb und außerhalb der Kirche tauchen lange verschüttete Traditionen und Übungen wieder auf und wir haben ein Gefühl dafür bekommen, dass Kontemplation, Langsamkeit, Entschleunigung und Ähnliches das Zentrum eines geistlichen Lebensstiles sind.
Und so ist es für uns auch nicht überraschend, dass das Verb „innehalten“ einen geistlichen Artikel zum Thema dieser neuen Citykirche-Ausgabe überschreibt.
Inne-halten. Das Wort benutzte man schon im Mittelhochdeutschen. Es beschreibt eine Bewegung nach innen, es geht um ein Besitzen, Bewahren, um den Körper. Und wenn ich heute sage, lassen Sie uns einmal innehalten, dann meine ich damit, was der mittelalter-
liche Mensch auch gemeint hat: anhalten, pausieren, und das Ganze irgendwie mit dem Fokus nach innen, dem Fokus darauf, wie es in mir drinnen aussieht.
Wenn Sie diese Ausgabe in den Wochen nach ihrem Erscheinen lesen, dann ist Passionszeit. Die läuft auf die Kreuzigung zu. Überspitzt: auf den Moment des Todes Jesu. Dieser Moment wird in den Evangelien als höchst dramatisch beschrieben. Es wird finster. Die Erde bebt. Der Vorhang im Tempel zerreißt …
Könnte man sich da nicht ganz naiv fragen, ob die Welt kurz innegehalten hat? Hält das Universum den Atem an, weil der Sohn Gottes gerade stirbt?
Das ist eine kleine Spinnerei, aber man kann sie schon mal spinnen. Sicher ist, die Erde dreht sich weiter. Das Universum rappelt sich auf. Die biblischen Figuren trauern und tun, was zum Leben gehört und was getan werden muss. Dass dann auch nach drei Tagen die große Wende zum Guten kommt, zum fundamental Guten, das behalten wir hier für den Moment im Herzen, ohne weiter darauf einzugehen. Auf jeden Fall ist dieses Motiv — dass die Welt den Atem anhält — ein Grundmotiv dieser Zeit des Kirchenjahres.
Und das „Den-Atem-Anhalten“, das nenne ich jetzt innehalten und behaupte, dass das eine Kraftquelle für uns sein kann, wenn wir es einüben.
Innehalten. Beim Weg von der U-Bahn nach Hause zum Beispiel. Auf der Kellertreppe. Oder wenn ich auf dem Weg zu einem schwierigen bzw. verheißungsvollen Gespräch bin. Ich plädiere dafür, das Innehalten öfter einmal zu probieren. Einfach einen kurzen Halt einzulegen. Stopp!
Natürlich kann sich das rein innerlich abspielen. Wenn ich irgendwo sitze und ohnehin schon nachdenke. Aber spannender finde ich, wirklich auch physisch anzuhalten. Stehen zu bleiben. Tief durchzuatmen. Sich umzuschauen. Die Welt um sich herum ganz intensiv wahrzunehmen.
Wenn uns bei dieser Übung jemand beobachten sollte, wird der oder die vielleicht lachen und sich fragen: Warum bleibt dieser seltsame Mensch einfach stehen, schaut sich um und sieht dabei auch noch fröhlich aus?
Aber genau darum geht es. Es ist eine der einfachsten geistlichen Übungen überhaupt. Zum Wahrnehmen der Welt um mich herum gehört auch das Wahrnehmen meiner selbst in diesem konkreten Augenblick. Ich beziehe das Außen aufs Innen.
So wie die Passionszeit das fröhliche Feiern unterbricht und fragt, was das Leid Jesu mit mir zu tun hat, so fragt mein Innehalten danach, wie es mir gerade geht. Was um mich herum ist und was in mir drinnen gerade passiert.
Das Innehalten in der Passionszeit kann Veränderung bewirken. Jedes Jahr wieder fällt bei mir hier der ein oder andere Groschen, was Gottes Liebe zu mir angeht. Unser Innehalten als Übung beim Waldspaziergang oder am Plärrer (bitte nicht, wenn Sie gerade ein Fahrzeug steuern) wird auch etwas bewirken. Wenn ich Innen und Außen bewusst zusammen betrachte, passiert etwas mit mir.
Vor ein paar Tagen habe ich so ein Innehalten ungeplant erlebt. Ein Student riss mich mit einer Bitte aus meinem Trott. Ich war auf dem Weg und dann zwang mich dieser freundliche Mensch zum Innehalten. Ich konnte ihm rasch helfen und als er schon wieder weg war, blieb ich noch kurz stehen und habe meinen inneren „Reset“-Knopf gedrückt. Hin zu einem grundsätzlichen „Ja“. Ich habe innegehalten und reflektiert, wie viel Freude freundliche Mitmenschen machen. Das wiederum führte rasch ganz allgemein zur Freude an Familie, Freunden und Beruf. Das führte zu einer Dankbarkeit dem Schöpfer gegenüber und dazu, dass ich nach wenigen Sekunden freudiger als zuvor weiter Richtung Büro ging.
Diese kleine Übung, die ich problemlos dreimal täglich machen kann, verdeutlicht ganz gut, warum Halt im Deutschen diese freundliche Doppelbedeutung hat. Zu halten gibt mir Halt. Halt im Leben. Vertrauen darauf, dass die Welt sich weiterdreht und Gott einen guten Plan mit mir und der Welt hat.
Wenn Sie also in der nächsten Zeit Leute beobachten, die mitten auf dem Gehweg plötzlich fröhlich stehen bleiben und tief durchatmen, dann könnte es sich bei ihnen um Leser*innen der Citykirche handeln.
Text: Jan Martin Depner
Foto: iStockphoto.com