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Jesus und der gute Ton
Fresko der Tempelreinigung durch Jesus in der Kirche Basilica di Santa Maria degli Angeli a Pizzofalcone (1882).

Betrachtungen über das christliche Gottvertrauen enden oft mit paradoxen Ergebnissen.
Oder zumindest mit zwei entgegensetzten Polen.
Das liegt in der Natur der Sache.
Auch diesmal ist das wieder so.
Ich kann Jesus als Gegner des guten Tons präsentieren und als Ursprung und Garant desselben.

 

In dieser Ausgabe der Citykirche steht „der gute Ton“ für unsere Art des Umgangs miteinander. Und damit auch für die gesellschaftliche Vereinbarung dessen, was man für angemessen hält. Seitdem es solche Konventionen gibt, gibt es wahrscheinlich den Ärger mit der nachkommenden Generation, die das, was Eltern und Großeltern noch für den guten Ton hielten, oft radikal infrage stellen. Das wiederum führt seit Jahrhunderten immer wieder zu völligem Unverständnis der Älteren: „Diese Jugend heutzutage, Hilfe!“

Wenn es um die sich wandelnden Konventionen geht, sehe ich Jesus klar auf der Seite der Jungen. Der Revoluzzer. Derer, die für jeweils ihre Zeit ausprobieren, welches Erbe einerseits trägt und bleiben kann, und was andererseits womöglich wegkann.

Das kann ich mit Leichtigkeit an Geschichten aufzeigen, in denen Jesus mit seinen Jüngern unverschämt provokativ den guten Ton seiner Zeit verletzt. Denn das, was er ganz oft tat, das tut man nicht: Ährenzupfen am Sabbat. Eine nicht-jüdische Frau einfach ansprechen. Mit Zöllnern zu Tisch sitzen … Diese Reihe wäre noch ziemlich lange fortsetzungsfähig. Jesus verstößt gegen das, was man religiös oder gesellschaftlich betrachtet für den guten Ton im Umgang miteinander hielt. Aber abgesehen von vielen erhellenden Beispielen, wie Jesus die Verwalter des damals guten Tones zur Weißglut bringt, könnte ich das Verhalten Jesu auch inhaltlich als „dem guten Ton gegenüber kritisch“ begründen.

Unser Gottvertrauen kann nur funktionieren, wenn es wirklich unser eigenes Vertrauen ist. Glaube können wir nicht erben. Wir können zwar unseres Vaters Glauben glauben, müssen aber unsere eigene Beziehung zu Gott haben. Natürlich erben wir Traditionen und haben oft viele Mütter und Väter im Glauben, die uns geprägt haben. Aber unsere eigene Beziehung zu Gott funktioniert immer nur unmittelbar: Gott und ich. Und darum kann das, was bei anderen zum guten Ton des Glaubens gehörte bzw. gehört, bei uns etwas ganz anderes sein. So wie Jesus die pharisäischen Gebote durch seine provokativen Taten auf ihren Sinn abklopfte, müssen wir alle unseren eigenen guten Ton finden.

Dass wir in der Kirche der Reformation so häufig auf die Bremse steigen, wenn neue Generationen neue Formen suchen, um ihren Glauben zu leben, ist eigentlich ein Skandal. Wenn es stimmt, dass die Kirche ständig zu reformieren sei („ecclesia semper reformanda“ – Luther), müssten wir uns viel häufiger auf das einlassen, was die Jungen für den guten Ton halten, um dann zu schauen, wie das zu den apostolischen Traditionen passt. Wenn also welche in der Kirche gegen den guten Ton verstoßen, könnte unsere erste gedankliche Reaktion womöglich eher sein „die sind ja wie Jesus“ anstatt „Hilfe, diese schreckliche Jugend“.

Selbst biblische Berichte lassen durchscheinen, dass Jesus auf die Beobachter im Erstkontakt manchmal wie ein Raufbold und Haudegen wirkte. Aber natürlich gibt es ebenso die entgegengesetzte Seite. Die des zärtlichen und liebevoll zugewandten Freundes. Oder die, in der er sein Gegenüber mit bedingungsloser und inniger Liebe versteht, liebt, verteidigt und schützt – und seinen Jüngern und Jüngerinnen dann sagt: Genau so soll es unter euch auch sein.

Das wäre der angemessene „gute Ton“ innerhalb der Kirche. Nicht nett und freundlich, nicht gesetzestreu und höflich. Sondern radikal liebevoll. Jesu Aufforderungen zu ethischem Handeln, zum guten Ton unter denen, die ihm nachfolgen, sind ziemlich klar. Nämlich: Dient einander. Seid verletzlich, aufrichtig. Jagt der Liebe und dem Frieden nach. Das gelingt uns wahrscheinlich selten, aber das wäre der gute Ton in der Kirche. Und dieser widerspricht gar nicht unbedingt der paradox wirkenden anderen Seite von der raufboldigen Kritik Jesu an dem, was die Würdenträger für den guten Ton halten.

Weil unser Universum eine beziehungsorientierte Schöpfung ist (diese wilde Behauptung von mir wird von so vielen geteilt, dass sie fast schon als eine Selbstverständlichkeit gelten könnte), haben wir alle eine Vorstellung vom guten Ton im Umgang miteinander. Wir Menschen teilen ein Ideal. Mit gewissen kulturbedingten Unterschieden ist es in etwa überall so: Eine intime Keimzelle (Beziehung, Familie) in einer freundlichen Nachbarschaft an einem Ort, den alle Bewohner*innen mögen – das ist gemeinhin die Vorstellung vom guten Ton. Ständig gibt es ein Hin und Her in den Häusern, man dient einander, hilft sich, ist verfügbar, freut sich am Erfolg der Nachbarin und nimmt den Fremden voller Liebe auf … dieses Ideal haben wir alle in uns. Und es funktioniert auch überall auf der Welt.

Ich glaube, dass Gott uns genau diesen guten Ton als Sehnsucht ins Herz gelegt hat. Danach sehnen wir uns. Und wie das dann schiefgeht, wie die eigene Trägheit und Sünde das Ideal scheitern lassen, wie wir manipuliert werden zu hassen, das wissen wir alle. Wer Macht gewinnen will, weiß dieses Ideal zu pervertieren – und damit Gottes Plan für den guten Ton im Umgang miteinander.

Aber immerhin können wir überall da, wo Kirche sich greifen lässt, gegensteuern und Jesu radikalen guten Ton im Umgang zu etablieren versuchen.

Das war nie leicht. Ich werde nicht gleich alle mit herzlicher Liebe in mein Herz schließen können. Konflikte müssen auch in der Kirche aufgearbeitet und Fehler benannt werden. Aber wenn es mir ernst ist mit dem guten Ton, kann ich etwas tun. Achtung kann ich einüben und einfordern. Lästern kann ich einstellen. Auch zu dienen kann man lernen. Und wenn ich wirklich für den guten Ton im Umgang miteinander sorgen will, werden sich die Prioritäten in einer Gemeinde vermutlich verschieben. Das wird man merken. Während wir oft noch nach Perfektion streben, könnte Jesu Vorbild für den guten Ton wahrscheinlich dafür sorgen, dass wir in eine andere Richtung steuern – weg vom guten Ton der Vergangenheit hin zur echter Herzlichkeit, die heute dringend vonnöten wäre, um Kirche wieder glaubwürdig zu machen.

Text: Jan Martin Depner
Foto: AdobeStock