Innenstadt
Spuren Jerusalems in Nürnberg

Haben Sie sich jemals gefragt, warum es unterhalb der Nürnberger Burg die Straße „Am Ölberg“ gibt oder das wunderbare Fachwerkhaus am Tiergärtnertorplatz mit der geharnischten Figur des Heiligen Georg am Eck im Volksmund auch „Pilatushaus“ genannt wird? Beide Beispiele verdeutlichen das mittelalterliche Anliegen, das von Jerusalem erhoffte Heil auch in Nürnberg konkret erfahrbar zu machen.

Grund dafür war die für uns heute in ihrer praktischen Auswirkung kaum noch vorstellbare Gliederung des gesamten privaten und öffentlichen Lebens des Mittelalters von der Wiege bis zur Bahre als Teil der göttlichen Heilsordnung in der Nachfolge Jesu. Biblische Geschichten und Heiligenlegenden sollten ganz real erfahrbar und das ganze Leben von deren Heiligkeit berührt oder besser aufgeladen, elektrisiert werden. Diese mittelalterliche Vorstellung erreichte durch Pilgerreisen junger Männer aus Nürnberger Patrizier- und Kaufleutefamilien ins Heilige Land ihren Höhepunkt. Sie trugen mit ihren Erzählungen und teilweise schriftlichen Pilgerreiseberichten mit – im Fall von Hans VI. Tucher – detaillierten Skizzen und Maß- und Entfernungsangaben zu Bauwerken und Kreuzwegstationen dazu bei, Nürnberg auf der Folie der während der Pilgerfahrt real vorgefundenen, mittelalterlichen Stadt Jerusalem zu verstehen und diese wiederum in ihrer Heimatstadt Nürnberg durch Stiftungen erfahrbar zu machen.

So kam es zu einem eigenartigen Kulturaustausch, bei dem theologische Vorstellungen zunächst in reale Gebäude und Topografien in Jerusalem eingetragen und diese Gebäude und Topografien dann wiederum theologisch überhöht nach Nürnberg übertragen wurden. Das himmlische Jerusalem, die ersehnte heilige Stadt, wie sie im letzten Buch der Bibel geschildert wird, in der Gott alles in allem sein wird und alle Tränen abwischen wird, in der weder Tod, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz sein wird (Offenbarung Kapitel 21), wurde von den Jerusalempilgern mit der irdischen Stadt Jerusalem identifiziert.

Die dort vorgefundenen Heiligtümer und vermeintlichen Wege Jesu wurden ganz praktisch mit einem Maßstab (vgl. Offb. 21, 15) abgenommen und teilweise nach Nürnberg in Kopie übertragen. So wurde der Sehnsuchtsort Jerusalem in Nürnberg visuell oder konkret erlebbar. Für diese Verflechtung lassen sich in Nürnberg bis heute einige Spuren entdecken.

Pilatushaus und Kreuzweg von Adam Kraft

Ausgangs- und zugleich Höhepunkt der sinnlichen Erfahrung und Nachahmung des Leidenswegs Christi zur eigenen Heilsvergewisserung sind die Kreuzwegstationen von Adam Kraft in Nürnberg. Die Jerusalempilger übertrugen bis in die Anzahl der Schritte die zur Kreuzfahrerzeit in Jerusalem gebildeten Kreuzwegstationen entlang der via dolorosa nach Nürnberg. Diese sind bereits auf dem Epitaph von Hans VI. Tucher topografisch korrekt zu erkennen. Dass die Tradition, die das spätgotische Bürgerhaus am Tiergärtnertorplatz zum Pilatushaus, also dem Ort der Verurteilung Jesu werden ließ, erst aus dem 17. Jahrhundert stammt und den Beginn der Kreuzwegstationen vom Neutor dorthin verlegte, interessiert dabei fast so wenige Menschen, wie heute bewiesen ist, dass die eigentliche via dolorosa Jesu ganz andere Bahnen durch die Jerusalemer Altstadt nahm: Der Statthalter Pilatus, der nur zu den hohen Feiertagen seine Residenz von Caesarea Maritima nach Jerusalem verlegte, hielt Gericht und wohnte in der sogenannten Davidszitadelle am heutigen Jaffator. Von dort führt also der historische Leidensweg Jesu bis zur heutigen Grabes- und Auferstehungskirche, in der Kalvarienberg und Grabes- und Auferstehungsort spätestens seit dem 3. Jahrhundert verehrt werden. Auch der Nürnberger Kreuzweg führte ursprünglich zu einer monumentalen Kreuzigungsgruppe am Osteingang des Johannisfriedhofs, die ihren Abschluss in der Holzschuherkapelle als Heiliggrabkapelle fand. Dieser Kalvarienberg befindet sich heute im Kreuzigungshof des Heilig-Geist-Spitals.

Die Nürnberger Maßeinheit an der Lorenzkirche

An einem Strebepfeiler des Lorenzer Nordturmes sind für jeden sichtbar Maßeinheiten eingelassen, die bis 1811 für alle Bereiche des Lebens maßgebend waren.

Der „Nürnberger Werkschuh“ entspricht 27,84 cm. Einer der Jerusalempilger soll das Grab Jesu gemessen und dadurch auf die Körpergröße Jesu von sechs Werkschuh geschlossen haben (167,04 cm). Die vorgegebene Größe der liegenden Grabsteine auf unseren Friedhöfen von St. Johannis und
St. Rochus orientiert sich bis heute an diesen sechs Werkschuh in der Länge (167,04 cm) und drei Schuh in der Breite (83,52 cm).

Epitaph für Heinrich Ketzel d. Ä. und d. J. am Westchor der Sebalduskirche

Unter den zahlreichen Heiliglandpilgern der Reichsstadt finden sich viele Angehörige der Kaufmannsfamilie Ketzel. Auf ihren Gedächtnistafeln und Epitaphien werden die Verstorbenen als Mitglieder verschiedener Orden ausgezeichnet, die mit ihren Pilgerfahrten in Verbindung stehen und mit besonderen Ablässen verbunden waren: die Kanne mit drei Lilien des aragonesischen Kannenordens, das Jerusalemkreuz der Grabesritter, das Rad mit Kurbel des St. Katharinenordens vom Berg Sinai und das Schwert des zyprischen Schwertordens.

Das himmlische Jerusalem in St. Sebald

Vor 500 Jahren wurde das Sebaldusgrabmal zur Aufbewahrung der Gebeine des Stadtpatrons durch Peter Vischer und Söhne geschaffen. Es gipfelt in der plastischen Umsetzung des himmlischen Jerusalems mit dem Jesuskind als Weltenherrscher in der Mitte. Himmlisches Jerusalem und Ortsheiliger werden so für die Gläubigen vor Ort zusammengeführt. Bereits Hans VI. Tucher hatte in seiner wirkungsgeschichtlich bedeutenden Pilger-
reisebeschreibung 1484 die Sebalduskirche mit der Grabes- und Auferstehungskirche Jesu so verglichen, dass diese für die Nürnberger Bürgerinnen und Bürger in der Heimat erlebbar wurde: Er legt den Menschen in der Heimat mithilfe der Namen der Sebalder Portale und Altäre eine Pilgerspur durch ihre eigene Kirche, als nähmen sie gerade selbst an der Heiligen Liturgie und Prozessionsfolge zwischen Kreuzigungs-, Grab- und Auferstehungsstätte Jesu in Jerusalem teil.

Die Heiliggrabkapelle des Heilig-Geist-Spitals, die erst nach 1945 abgetragen wurde

Viele Jerusalempilger ließen Kopien der Heiliggrabkapelle Jesu in der Jerusalemer Grabes- und Auferstehungskirche an ihren Heimatorten errichten. Durch diese Kopien, die sich in ganz Europa wiederfinden, kann heute die Bauentwicklung der Grabkapelle in Jerusalem rekonstruiert werden. Die älteste Nürnberger Heiliggrabkapelle war der Vorgängerbau der Lorenzkirche, die noch 1343 „pfar zu sant Laurenczen zu dem heiligen Grabe“ genannt wurde. Eine weitere wurde erst im zweiten Weltkrieg beschädigt und dann abgetragen. Sie war von Jörg Ketzel nach seiner Pilgerfahrt ins Heilige Land 1459 auf dem Kirchhof des Heilig-Geist-Spitals auf der Insel-Schütt gestiftet worden. Hans VI. Tucher misst bei seiner Pilgerfahrt 1479 selbst genau nach und würdigt Ketzels Heiliggrabkapelle als „ehrlichen Versuch“. Der Patrizier Stefan Paumgartner bestätigte nach seiner eigenen Pilgerfahrt 1498 die Übereinstimmung der Kopie mit der originalen Heiliggrabkapelle Jesu in Jerusalem. Auch die Holzschuherkapelle auf dem St. Johannisfriedhof mit der Grablegungsgruppe von Adam Kraft ist als Heiliggrabkapelle zu verstehen, folgt aber einem anderen Bautyp.

Der Nürnberger Ölberg

Überträgt man die Jerusalemer Topografie auf Nürnberg, dann bildet der Burgfelsen den Jerusalemer Ölberg mit dem Himmelfahrtsort Jesu. Am Fuß des Ölbergs befindet sich der Garten Gethsemane. So ist es folgerichtig, dass sich unterhalb der Walpurgiskapelle bis zur Zerstörung 1945 eine in den Burgfelsen gehauene Ölberggrotte befand. Sie beherbergte eine Figurengruppe mit dem betenden Christus und drei schlafenden Jüngern. Die Erinnerung an sie ist bis heute im Straßennamen unterhalb der Burg enthalten.

Tipp:

Wer mehr zum „Sehnsuchtsort Jerusalem“ in Nürnberg erfahren möchte, sollte sich mit Ulrike Heß auf Spurensuche begeben:

Termine:
13. & 20. Juni, 18. Juli, 8. & 29. August, 5. & 19. September jeweils 14 Uhr

Treffpunkt:
Kasse Museum Tucherschloss, Hirschelgasse 9-11, 90403 Nürnberg

Gebühr:
€ 1,50 ermäßigter Eintritt ins Museum Tucherschloss und Stadtmuseum, zzgl. € 3 Führungsgebühr.

Danksagung:

Vielen Dank für viele Hinweise und unterstützende Literatur durch Ulrike Heß und Stadtheimatpflegerin Dr. Claudia Maué sowie Ulrike Berninger und Pfarrer i. R. Christian Schmidt.

Foto Tucher Epitaph: Uwe Niklas, Museen der Stadt Nürnberg, Leihgabe der Tucher’schen Kulturstiftung im Museum Tucherschloss und Hirsvogelsaal; Ferdinand Schmidt, Ansicht der Hl.-Grab-Kapelle in Nürnberg, Museen der Stadt Nürnberg, Kunstsammlungen, Inv.-Nr. Hopf 1421; Restliche Fotos: Wikipedia

Text: Martin Brons
Artikelfotos: siehe Danksagung