Am 1. Januar 1996 habe ich meinen Dienst als Organist von St. Lorenz und damit als 28. Nachfolger von Nykolaus Pair (um 1448) angetreten. Zugleich habe ich das Amt des Lorenzkantors übernommen. Seitdem – und damit länger als 28 Jahre – durfte ich das musikalische Leben in diesem wunderbaren Raum gestalten: Es sollte vielfältig sein, einladend, niederschwellig, anregend, verkündigend, hochkarätig, anspruchsvoll, überraschend, provozierend, tröstend.
Thematisch prägend für die von mir verantwortete Lorenzer Kirchenmusik waren neben dem Kirchenjahr und vielen speziellen Anlässen (500 Jahre Engelsgruß, Lutherdekade und Reformationsjubiläum, 100 Jahre Bachchor …) 23 selbst gewählte Jahresthemen wie beispielsweise „Schöpfung“ (2002), „Schweiz“ (2014) oder „Weißt du, wie das wird?“ (2021). Am Beispiel von „Musik im Exil“ sei skizziert, wie ein solches Thema das jeweilige Jahr (hier 2008) entscheidend prägen konnte: Auf dem Programm standen unter anderem Vertonungen von Psalm 137 (entstanden im babylonischen Exil), „Gedichte ohne Vaterland“ von Erich Fried, Musik jüdischer Komponisten, die zur Zeit des Nationalsozialismus aus Deutschland emigrieren mussten (Itor Kahn, Wolpe, Ullmann), Choräle der im 16. Jahrhundert aus Frankreich geflohenen Hugenotten, Lieder der nach Amerika verschleppten Schwarzen (Spirituals, Gospels), Werke des von den Nazis posthum exilierten Felix Mendelssohn, Auszüge aus dem „Hollywooder Liederbuch“ von B. Brecht und H. Eisler, der Kinofilm „Exile family movie“ (Österreich 2006), Hector Berlioz´ Weihnachtsoratorium „L´enfance du Christ“, das die Flucht nach Ägypten ins Zentrum der Betrachtung stellt.
Die Schirmherrschaft für dieses Themenjahr übernahm Ulrich Maly, damals Oberbürgermeister Nürnbergs, der Stadt der Menschenrechte.
Bei allen Jahresthemen reichte das musikalische Repertoire von der Gregorianik bis zur Moderne. Der Bachchor und das Vokalensemble St. Lorenz präsentierten Werke von Monteverdi über Bach, Haydn, Mendelssohn und Dvořák bis zu Marco E. Bossi (Das verlorene Paradies), Leoš Janáček (Glagolitische Messe), Franz Waxman (Lied aus Theresienstadt), Ernest Bloch (Avodath Hakodesh), Arvo Pärt (Passio, Adams Lament), John Tavener (Total eclipse) und Stefan Hippe (Requiem). An der 2005 vollendeten Orgelanlage spielten Lorenzer Organisten und Gäste aus aller Welt Musik des 15. bis 21. Jahrhunderts; Lorenz Brass hatte prächtige Arrangements und zahlreiche Uraufführungen im Programm (Werner Heider, Moritz Eggert, Martin Torp …).
Immer wieder haben wir Musik mit Lesungen verbunden (Texte aus der Bibel bis zu Schlingensief „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“), alljährlich einen Film in der Kirche gezeigt, Musik und Film kombiniert (Haydns „Schöpfung“ mit G. Reggios „Koyaanisqatsi“, Samuel Beckets „Quadrat I+II“ mit Philip Glass´ „Mad Rush“) …
Kathrin Göring-Eckhard meditierte über die „Sieben letzten Worte“ (Haydn), der Chefredakteur des BR-Fernsehens spielte als „Nachrichtensprecher“ den Evangelisten bei einer Aufführung von Bachs „Weihnachtsoratorium“. Börsenticker, Radioapparate, ein Orgamat und ein Prozessionsrekorder kamen zum Einsatz.
Nicht zu vergessen sind die Reformations-Jukebox und die Flower-Power-Sessions (Frescobaldis „fiori musicali“ trafen auf McCaslins Videoskulptur „Green machine“), die Konzertreihen „Bach und Luther: printed in Nürnberg“, die „Parade der Staubsaugroboter“ (in Kombination mit K. Capeks Hörspiel R.U.R.), die Happenings „Synchron“, „Vexations“ und „ASLSP“ oder das „change-singing“-Projekt als Reaktion auf die Einschränkungen durch die Corona-Schutzmaßnahmen.
Kooperationspartner waren dabei unter anderem das EKD-Kulturbüro (Berlin), das ensemble KONTRASTE, der Windsbacher Knabenchor, das GNM und das Neue Museum (Nürnberg), das Musikfest ION, das Staatstheater Nürnberg, die Ufa Fiction (Potsdam), das Mobile Kino und der BR.
So vieles war möglich in „meiner“ Lorenzer Zeit! Dafür bin ich dankbar:
· Allen Chorsängerinnen und -sängern, Kolleginnen, Kollegen und Wegbegleitern: für Zeit, Engagement, Kritik und Begeisterung;
· der Kirchengemeinde St. Lorenz für alles entgegengebrachte Vertrauen;
· den Förderern, Hörerinnen und Hörern;
· allem privaten Rückhalt und Verständnis;
· allen, die ich jetzt vielleicht vergessen habe;
· dem Heiligen Geist, der mitgeholfen haben muss.
Einer meiner Lehrer, der Theologe und Kirchenmusiker Dr. Wolfgang Herbst, hat 1982 formuliert: „Künstlerische Ausdrucksgestalten können Existenz mitteilen, Wahrheit sichtbar machen und vom Lebendigen zeugen. Wer aber anderen den Weg zum Leben zeigen will, muss selbst lebendig sein. Eine Kirche, die den Weg des Lebens verkündigt, darf selbst kein Zerrbild dieses Lebens sein, sie muss singen und feiern können.“
Ich wünsche der Kirchenmusik, dass sie von den über sie entscheidenden Gremien als notwendiger Schatz begriffen wird. Gerade in schwierigen Zeiten muss sie sich sowohl des ideellen als auch des finanziellen Rückhalts sicher sein können.
Ich wünsche der Kirchenmusik in St. Lorenz und der Kirchengemeinde St. Lorenz von Herzen alles Gute.
Text: Matthias Ank
Foto: Andreas Schoelzel
Info
Sonntag, 28. Juli, 10 Uhr
Gottesdienst mit Verabschiedung von Matthias Ank
Ein Gottesdienst mit Liturgie, Predigt, Abendmahl und viel Musik
Das Jahresprogramm der Lorenzer Kirchenmusik steht unter der Überschrift „Mixtur“. Es liegt als Druckversion in der Lorenzkirche, im i-Punkt (eckstein) und an anderen Orten aus. Hinweise finden Sie auch online unter: lorenzkirche.de
Eine Lorenzer Mixtur für zu Hause und unterwegs finden Sie hier.
Zu hören ist eine Mischung von Orgel-, Chor-, Orchester- und Bläsermusik von Werner Heider, Johann Sebastian Bach, Johann Pachelbel und Stefan Hippe. Es singen und spielen der Bachchor und das Vokalensemble St. Lorenz, Lorenz Brass und das ensemble KONTRASTE. Leitung und Orgel: Matthias Ank.